Mittwoch 25.05.2016


Lesung mit John Irving

Himmelsspaziergang mit Müllkippenleser

John Irving
John Irving, Foto: Everett Irving
Er lebt in Vermont und auf einer Insel in der Nähe von Toronto, die der Großvater seiner Frau vor 80 Jahren beim Pokern gewonnen hat. Es ist so eine dieser Geschichten, die John Irving auch in einem seiner Romane erzählen könnte, in denen unwahrscheinliche Zufälle nur allzu oft das Schicksal seiner Protagonisten bestimmen. Transvestiten und Zwerge, Prostituierte, Zirkuskinder und Krüppel bevölkern seine Geschichten, der prototypische Irving-Held ist Weise, Ringer und Schriftsteller in Personalunion, und er muss in einer chaotischen Welt zurechtkommen, die ihm übel mitspielt. Das klingt nach Kitsch, und ist in seinem neuen Roman „Straße der Wunder“ doch genau das richtige Rezept für eine sehr komische, sehr traurige und sehr berührende Geschichte. Im Thalia Theater stellt John Irving aus seinen neuen Roman vor. Die deutschen Texte liest Alexander Simon. Moderation: Susanne Weingarten.

„Schreiben ist wie Ringen“, sagt John Irving in seinem Buch „Die imaginäre Freundin“. „Man braucht Disziplin und Technik. Man muss auf eine Geschichte zugehen wie auf einen Gegner.“ Und er macht das sehr regelmäßig, so etwa alle drei bis vier Jahre veröffentlicht er einen neuen, akribisch recherchierten und handschriftlich verfassten Roman, 14 sind es inzwischen und allesamt Bestseller. Der Durchbruch gelang ihm mit „Garp und wie er die Welt sah“ und „Das Hotel New Hampshire“, für die Drehbuchadaption seines Romans „Gottes Werk und Teufels Beitrag“ wurde er im Jahr 2000 mit einem Oscar ausgezeichnet. Mit seinen gelegentlich etwas effektheischenden Plots und dem skurrilen Personal in breit ausufernden Romangeflechten, ist Irving, der in der Tradition der sozialkritischen Romane des 19. Jahrhunderts steht, sich aber stets auch auf die „Blechtrommel“ von Günter Grass beruft, noch nie ein Kandidat für die literarische Haute cuisine gewesen. Er ist ein literarischer Entertainer, der sich mit seinem neuen Roman doch auch als verschmitzter Dekonstruktivist erweist, wenn er einen mäandernden Erinnerungsstrom ausbreitet, dem Vergewisserung, Präzisierung und damit Wiederholung quasi immanent ist. Er macht damit zum Erzählprinzip, was ihm die Kritik in den letzten Jahren so oft vorgeworfen hat. Gleichzeitig greift er für „Straße der Wunder“ ein für seine Romane klassisches Setting auf: Erzählt wird aus der Perspektive des Schriftstellers Juan Diego Rivera, der sich auf eine Reise von New York über Hongkong auf die Philippinen begibt, die zu einer langen Erinnerungsreise in seine Kindheit und Jugend wird. Die Übergänge zwischen Traum und Wirklichkeit verfließen dabei, denn der 54-jährige Rivera ist herzkrank, nimmt Betablocker, die ihm seine Träume geraubt haben und Viagara, obwohl er eigentlich gar nicht in einer „sexuellen Beziehung“ lebt. Als er wegen eines Schneesturms bei der Abreise in New York ohne Tabletten in der Flughafenlounge festsitzt, ändert sich das alles. Mit Miriam und ihrer Tochter tauchen zwei begeisterte Leserinnen seiner Bücher auf, die zwar nicht ganz von dieser Welt sind, Juan Diego auf seiner Reise jedoch immer wieder sehr irdisches Glück bescheren. Gleichzeitig gewinnt er seine verloren geglaubten Träume wieder – und mit ihnen kommen auch die unterdrückten Wahrheiten seines Lebens zum Vorschein.
Juan Diego hat seine Kindheit und frühe Jugend mit seiner Schwester Lupe am Rande einer Müllkippe im südmexikanischen Oaxaca verbracht, die beiden Müllkippenkinder leben in einer wundergläubigen Welt, der sie selbst als wundersam erscheinen. Lupe kann nämlich Gedanken lesen und die Zukunft vorhersagen, aber nicht richtig sprechen, und Juan Diego, der einzige, der das hellsichtige Gebrabbel seiner Schwester versteht, wird als Müllkippenleser zu einer regionalen Berühmtheit. Sogar Englisch lernt er aus Büchern, die er im Müll findet. Sein häufigster Traum ist eine Himmelswanderung, bei der er „kopfüber durch die Luft“ geht. Ein „Todestraum“, wie ihm Lupe sagt, obwohl Juan Diego selbst das anders sieht, denn die Alpträume und die Verletzungen, aus denen sie resultieren, stehen ihm noch bevor. Als geliebte Verheißung thront über den Kindern das berühmteste Marienheiligtum Mexikos: „Unsere Liebe Frau von Guadalupe“, die einem Indio und Namensvetter von Juan Diego im 16. Jahrhundert als dunkelhäutige Madonna erschien. Die funkelnden Augen der Jungfrau werden zum Wendepunkt im Leben der Kinder, die schlimme Unfälle erleben, Mysterien und Wunder, zu denen vielleicht auch gehört, dass sich ein Priester in eine Transvestitin verliebt. Das Paar nimmt Juan Diego mit in die USA, wo sich eine Prophezeiung von Lupe erfüllt: „Du wirst nicht immer Juan Diego Rivera sein – das bist nicht du,“ hat sie ihrem Bruder vorhergesagt. Und ihm mit auf den Weg gegeben: „Vergiss nie, (…) wir sind das Wunder – du und ich." Am Ende findet Juan Diego zurück auf die Himmelsleiter – und dort, nach all den ereignislosen Jahrzehnten als Schriftsteller, „das Leben eines Helden, das er sich in seiner Phantasie einmal vorgestellt hatte“. Es ist das Leben eines Müllkippenlesers, das sich erfüllt, und das ist das eigentliche Wunder, von dem dieser barocke Roman über Religion, Glaube, Liebe und Sex erzählt. Etwas Kitschig ist das natürlich doch – ein Gnadenbild eben, so wie jenes von „Unserer Lieben Frau von Guadalupe“ auf dem Mantel von Juan Diego.

Buchhandlung Heymann, Diogenes Verlag und Thalia Theater, Alstertor, 20.00 Uhr, 9.- bis 25.- Euro





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