Montag 31.10.2016


Lesung mit Katja Lange-Müller

Wir aus der Zivilgesellschaft

Katja Lange-Müller
Katja Lange-Müller, Foto: Heike Steinweg
Da steht sie jetzt also, Asta Arnold, 65 Jahre alt, vor einer Drehtür auf dem Flughafen in München und raucht. Über zwei Jahrzehnte hat sie als Krankenschwester für internationale Hilfsorganisationen gearbeitet, zuletzt in Nicaragua. Sie ist mit einem One-Way-Ticket hier, ihr Koffer unterwegs verlorengegangen, und sie weiß einfach nicht so recht weiter. Irritiert von der vertrauten Sprache, die ihr doch so fremd geworden ist, spürt sie im Niemandsland zwischen Unterwegssein und Ankommen, dem Grund nach, der sie einmal in die Ferne gelockt hat: „Helfen, helfen, helfen, und warum?“ Das ist ihre Ausgangsfrage und eines der zentralen Themen des neuen Romans „Drehtür“ von Katja Lange-Müller.

Es hat lange gedauert, bis sich die 1951 in Ostberlin als Tochter einer hohen DDR-Funktionärin geborene Katja Lange-Müller wieder mit einem Roman zu Wort meldete, ihr preisgekröntes, letztes Buch „Böse Schafe“, eine Liebesgeschichte, die im geteilten Berlin der 80er Jahre spielte, ist vor neun Jahren erschienen. Mit „Drehtür“ legt sie nun tatsächlich einen hochaktuellen Roman vor, denn das Helfen hat angesichts der vielen Flüchtlinge im Land und der großen Hilfsbereitschaft der Zivilgesellschaft derzeit eine ganz besondere Konnotation. Die ambivalenten Konstrukte des Helfens sind in alle Geschichten eingeflochten, an die sich die rauchende Asta erinnert, ihr wird schon als junge Frau bewusst, dass „der Drang, dem Artgenossen helfen zu wollen, ja, helfen zu müssen, ein uralter Reflex“ ist, für den es jedoch ganz verschiedene Motive gibt. Bei ihr ist es ein ausgeprägtes Helfersyndrom, das sie den Beruf der Krankenschwester ergreifen lässt, sie weiß aber auch: „Warum jemand hilft, ob aus omnipotentem Größenwahn oder atheistisch-humanitärer Gesinnung oder aufs Paradies spekulierender, also nicht ganz so selbstloser christlicher Nächstenliebe, ist unwichtig; dass er nicht wegschaut, sondern die Ärmel hochkrempelt, reicht fürs Erste.“
Unterschwellig geht es dann auch noch um etwas ganz anderes: Katja Lange-Müller hat in ihrer Jugend selbst als Hilfskrankenschwester gearbeitet. In ihren Frankfurter Poetik-Vorlesungen berichtet sie, dass ihre erste Erzählung entstand, nachdem sie mit dem Tod einer Patientin konfrontiert war. Das Erzählen ist nun auch die Überlebensstrategie ihrer Heldin in „Drehtür“, die in ihrem Raucherasyl insgeheim viel mehr als ihre eigenen Lebensstationen erfährt, „all die Daten und Umstände“ über die „Unterikone einer Revolution“ oder über „indische Frauen“, die so dringend Nähmaschinen brauchten, sie sind erdacht von der erzählenden Autorin, erdacht für ihre Heldin Asta, die auf diese Weise Zeit gewinnt. Katja Lange-Müller lässt, wie schon in ihren vorangegangen Büchern, ihr eigenes Leben in die „kompakten Extrakte“ ihres Romans einfließen, wobei man viele der konzentrierten kurzen Stories, auch für sich lesen könnte. Der Roman selbst ist ein Hilfskonstrukt, ein Korsett für die lange nachhallenden Geschichten, die uns mit der Erkenntnis, dass es irgendwann dann doch keinen Weg mehr aus der Transitzone gibt, sondern nur aus dem Leben hinaus. Nicht einmal das Erzählen kann dann helfen, obwohl doch noch so viele Zigaretten übrig sind.

Katja Lange-Müller liest im Literaturhaus aus „Drehtür“. Moderation: Rainer Moritz.

Literaturhaus, Schwanenwik 38, 19.30 Uhr, 10.-/6.- Euro.





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