Montag 12.12.2016


Lesung mit Raoul Schrott

Die jüngste Schöpfungsgeschichte der Welt

Raoul Schrott in Chile
Dichter, Wissenschaftler, Weltreisender: Raoul Schrott in Chile, Foto: Tifernin Schrott
Raoul Schrott präsentiert seine Schöpfungsgeschichte „Erste Erde Epos“. Mit ihm zu Gast beim „HörSalon“ im Bucerius Kunst Forum ist Hermann Parzinger, Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, ein international renommierter Archäologe und Grenzgänger zwischen Geistes- und Naturwissenschaften. Er hat zuletzt ein Buch über das „Abenteuer Archäologie. Eine Reise durch die Menschheits¬geschichte“ (Beck Verlag) veröffentlicht. Moderation: Alexander Solloch.

Es sei ihm ein existenzielles Bedürfnis gewesen, er hätte es einfach wissen wollen, alles, was man über die Entstehung der Erde und des Mondes, die Entstehung des Lebens, die Entstehung der Einzeller bis zu den Höhlenmalereien weiß. Nur, wie schreibt, wie berichtet man darüber? Die Fakten stehen in der Schöpfungsgeschichte, die Raoul Schrott mit „Erste Erde Epos“ vorlegt, auf etwa 100 Seiten im Buch VIII. Dem Anhang voraus gehen sieben Bücher, in denen Reise- und Wissenschaftsberichte in einer grandiosen Textkomposition mit prosaischer Poesie und poetischer Prosa verknüpft sind. „Erste Erde“ ist die ungewöhnlichste Neuerscheinung dieses Jahres, ein wunderschönes Buch – und genau die richtige Lektüre für lange Wintertage und -nächte.

Raoul Schrott ist so eine Art Spezialist für epochale Aufgaben in der deutschsprachigen Literatur. Der habilitierte Sprachwissenschaftler hat aus dem Bretonischen, dem Okzidentanischen, Lateinischen, Griechischen, Gälischen, Französischen und Italienischen übersetzt. Dank ihm gibt es Homers „Illias“ (2008), das „Gilgamesh“-Epos (2011) und Hesiods „Theogonie“ (2014) in einem so lesbaren wie lesens¬werten Deutsch. Zu einem Lyrik-Bestseller wurde seine umfangreiche Anthologie „Die Erfindung der Poesie“ (1998), für die er „Gedichte aus den ersten viertausend Jah-ren“ neu übersetzte. All das lässt auf einen eifrigen Gelehrten schließen, der seine Tage im stillen Kämmerlein verbringt. Tatsächlich ist Raoul Schrott seit jeher ein fast schon manischer Forschungsreisender auf einem einmaligen, poetischen Welterkundungstrip: In „Finis Terrae“ (1995) erzählt er von einer Reise nach Thule, wo man einst das Ende der Welt vermutete, „Tristan da Cunha“ (2003) spielt auf einer winzigen Insel im Ozean zwischen Brasilien, Südafrika und der Antarktis, und in seinem Logbuch „Die fünfte Welt“ (2007) berichtet er von der Suche nach dem letzten noch unbekannten Ort der Erde. Den beredten Auftakt zu den Reisebüchern bildet sein 1988 erschienenes Debüt „Dada 21/22: Musikalische Fischsuppe mit Reiseeindrücken“. Doch seinen Anfang nahm das alles „ein paar Tage vor Sao Paulo“, wo Raoul Schrott 1964 auf einer Schiffsreise zwischen Brasilien und Europa geboren wurde.
Für seine Schöpfungsgeschichte hat er in sieben Jahren einen „Stationenweg“ rund um die Welt absolviert. Er war in Australien, um sich die Reste einer 3,5 Milliarden Jahre alten vulkanischen Lagune anzusehen, in der die ältesten Fossilien erhalten geblieben sind, die von Leben zeugen, in New York hat er die fossilen Reste eines Waldes besichtigt, in der kanadischen Tundra ist er auf dem Weg zu den über vier Milliarden Jahre alten Überresten des ersten Festlandes auf der Erde „fast von einem Bären gefressen worden“. Gleichzeitig hat Raoul Schrott das bis heute bekannte Faktenwissen zusammengetragen, nicht einfach nur in Buchrecherchen, sondern in vielen persönlichen Gesprächen mit Wissenschaftlern. Dieses Wissen und seine persönlichen Eindrücke von Orten und Dingen, die mit der Entstehungsgeschichte der Welt und des Lebens verbunden sind, hat er schließlich in ein poetisches Entwicklungsbad getaucht. Entstanden ist dabei ein vielstimmiges Buch ohne einen durchgängigen Erzähler, Raoul Schrott spricht durch „Masken“, wie er im Vorwort schreibt, hinter einigen verbergen sich Wissenschaftler, die er kennenlernte, andere sind fiktive Figuren, und auch er selbst tritt als Figur auf. Der Textkorpus ist fast durchgängig eine Collage: Schon das ungewöhnliche Inhaltsverzeichnis ergänzt in ausführlichen Kurztexten, was in den einzelnen Kapiteln erzählt wird – und gibt den nichtlinearen Lesemodus vor, zu dem der Text immer wieder einlädt und anhält. Den Auftakt zum Buch 1 bildet unter dem Titel „Erstes Licht“ die letzte „mündlich entstandene Kosmogonie: der Weltschöpfungsmythos der Maori, bevor wir mit George Allan Moore vom Urknall zwi¬schen 13,82 bis 13,3 Jahrmilliarden vor der Gegenwart erfahren. Es geht weiter mit Wasserstoff, dem ersten Element und einem Jungen, der sich 1970 „in die Luft sprengte“, weil er „Wasser machen wollte“.
Ergänzt wird der Haupttext durch kurze Wissensschnipsel am Textrand, die in blauer Schrift eingeblendet werden. Zum Beispiel heißt es da: „Entstehung der Schwämme als erste vielzellige Organismen vor etwa 750 Millionen Jahren“. Hier wird ein Text über „Tirol. Vorarlberg“ ergänzt, der die Frage aufwirft, wo und was Heimat ist. Um die „Entstehung unseres Gebisses“, „die Entstehung des Kopfnickens und -drehens“, geht es in den Wissensschnipseln, während die emeritierte polnische Zoologin Zofia Kalin-Halzska aus ihrem Leben erzählt – und von Vergewaltigung und Folter. Sie überlebte und forschte nach dem Krieg über die „ersten, rattenartigen Säugetiere“. Und natürlich tauchen dann auch „Erste Menschen“ auf: Raoul Schrott erzählt in einem langen Prosagedicht von der Suche nach jenen Menschenaffen, aus denen wir hervorgingen. Ganz zum Schluss wird dann auch noch deutlich, welchen Fingerabdruck der Mensch gerade auf der Erde hinterlässt. Das finale Bild des Bandes kann man als Kommentar dazu lesen: Es zeigt eine „verdunstete menschliche Träne“.

Bucerius Kunst Forum und NDR Kultur im Bucerius Kunst Forum, Rathausmarkt 2, 20.00 Uhr, Eintritt frei. Um Anmeldung unter www.zeit-stiftung.de/anmeldung/hoersalon oder an der Kasse des Bucerius Kunst Forums wird gebeten. Sendetermin der Aufzeichnung: 1. Januar 2017, 20.00 Uhr im „Sonntagsstudio“ auf NDR Kultur.





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