Dienstag 06.06.2017


Lesung mit Natascha Wodin

Ungefähre Heimat

Natascha Wodin
Natascha Wodin, Foto: Susanne Schleyer
Sie besitzt zwei Fotos von ihrer Mutter, eine Heiratsurkunde, eine Arbeitskarte und eine alte Ikone. Das ist ihr Familienerbe. Dazu kommen einige dürftige Erinnerungen aus Erzählungen, von denen sie nicht mehr weiß, was kindlichen Phantasien entspringt und was der Realität. Natascha Wodin hat sich mit dem Wenigen im Ungefähren ihrer eigenen Bilder und Vorstellun-gen eine Geschichte ihrer Herkunft geschaffen, bis sie sich zu einer großen Recherche aufmacht, einer Spurensuche im Dickicht ihrer Familiengeschichte wie der großen Zeitläufte des 20. Jahrhunderts. Schon für das Manuskript wurde die in Berlin lebende Schriftstellerin mit dem Alfred-Döblin-Preis ausgezeich-net, im Frühjahr erhielt sie dann für „Sie kam aus Mariupol“ den renommierten Preis der Leipziger Buchmesse. In der Buchhandlung Boysen & Mauke stellt sie ihr Buch vor. Moderation und Gespräch: Annemarie Stoltenberg.

Als Kind träumt sie davon, einer reichen russischen Fürstenfamilie anzugehören, die Schlösser und Ländereien besitzt. Ihre Eltern, so erzählt sie in der Schule, hätten sie im Straßengraben gefunden und nach Deutschland verschleppt. Die Bewunderung der anderen Kinder für diese phantastische Herkunft hält nicht lange an, dann wird nach der Schule wieder Jagd auf die Russin gemacht, der „Verkörperung des Weltfeindes“ und Stellvertreterin sämtlicher Kommunisten und Bolschewiken weit und breit. Natalja Nikolajewna Wdowina wird 1945 in Fürth geboren, ihre Mutter ertränkt sich 1956 in der Regnitz, sie kommt daraufhin in ein katholisches Mädchenheim, geht später in eine Sprachenschule und ist eine der ersten Dolmetscherinnen, die in den 1970er Jahren für Unternehmen und Kultureinrichtungen in die Sowjetunion reisen. 1983 erscheint im Rowohlt Verlag unter dem Namen Natascha Wodin ihr literarisches Debüt, es folgen mehrere Romane, darunter „Nachtgeschwister“, in dem sie von ihrer Ehe mit dem genialischen Schriftsteller Wolfgang Hilbig erzählt.

Natascha Wodin ist eine vielfach ausgezeichnete Schriftstellerin, als sie in ihrer Schreibwohnung am Schaalsee in Mecklenburg im Sommer 2013 aus „Spielerei“, wie sie schreibt, den Namen ihrer Mutter in eine russische Suchmaschine eingibt und tatsächlich eine Spur findet: Die Website „Azov’s Greek“ verzeichnet eine Jewegenia Jakowlewna Iwaschtschenko, die, wie ihre Mutter, 1920 in Mariupol in der Ukraine geboren wurde. Die längste Zeit ihres Lebens weiß sie nicht einmal, dass sie ein Kind von Zwangsarbeitern ist, jetzt öffnet sich für Natascha Wodin die Blackbox ihrer Herkunft und offenbart eine weitverzweigte und prominente Familiengeschichte. Es ist tatsächlich ihre Mutter, die auf „Azov’s Greek“ erwähnt wird, wie ihr Konstantin, der das Forum für griechischstämmige Ukrainer betreibt, bald bestätigt.

Im ersten Teil des Buches erzählt Natascha Wodin von den Höhen und Tiefen ihrer gemeinsamen Suche, bei der sich gleich zu Anfang zeigt, dass ihre kindlichen Phantasien über ihre Familie fast der Realität entsprachen: Ihr Urgroßvater war ein adeliger Großgrundbesitzer, ihr Großvater ein Jurist und früher Bolschewist, ihre Großtante eine bekannte Intellektuelle, ihr Onkel ein berühmter Opernsänger, es ist eine multikulturelle Familie aus Kaufleuten, Intellektuellen und Künstlern, die in den Mühlen der russischen Revolution, im 2. Welt-krieg und im Stalinismus zerrieben wird. Kaum jemand stirbt eines natürlichen Todes, Wodin will von den „finsteren, haltlosen Liebes-, Hass- und Wahnsinnsgeschichten“ irgendwann nichts mehr hören und fragt sich frustriert: „Was ging mich das alles an, das sowjetische und das post-sowjetische Fiasko, (…) das Nichtaufwachenkönnen aus einem kollektiven Albtraum, das Gefangensein zwischen Untertanentum und Anarchie, zwischen Leidensgeduld und Gewalt, diese ganze unaufgeklärte, finstere Welt, diese Familiengeschichte aus Ohnmacht, Besitzergreifung, Will-kür und Tod (…)?“

Das Leben ihrer 1920 mitten in den Bürgerkrieg hineingeborenen Mutter, von dem Wodin vor allem erzählen wollte, wird ihr nur fassbar, indem sie aus dem Umfeld der Mutter erzählt. In einer grandiosen Binnenerzählung geht es im zweiten Teil des Buches um die 1911 geborene Schwester der Mutter, die sich als Studentin einer konspirativen Gruppe anschließt, verhaftet und in ein Straflager deportiert wird. Im dritten, wieder eher dokumentarischen Teil erzählt Wodin vom Schicksal der Zwangsarbeiter, die nach Deutsch-land verschleppt wurden, darunter ihre Eltern. Nach Kriegs-ende leben sie für mehrere Jahre in einem Schuppen in Nürnberg, bevor sie in ein Lager für Displaced Persons eingewiesen werden. Es ist die erste ungefähre Heimat, an die sich Natascha Wodin selbst erinnert.

Mit ihrer bravourös zwischen Bericht und Erzählung, zwi-schen Privatem und Historischem changierenden Familien-geschichte gelingt es Natascha Wodin, die großen Verwerfungen des 20. Jahrhunderts für ihre Leser erfahrbar zu machen. Gleichzeitig ist „Sie kam aus Mariupol“ ein Geschenk an ihre Mutter und eine späte Aussöhnung mit einem Schicksal, für das die Geschichte keine Erinnerung vorgesehen hatte. In diesem Buch ist sie als große literarische Gedächtniskunst geborgen.

Buchhandlung Boysen & Mauke, Große Johannisstr. 19, 19.30 Uhr, 12.-/8.- Euro.





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