Mittwoch, 08.06.2016


Buchpräsentation mit Judith Hermann

Das Geheimnis der Veränderung

Judith Hermann
Judith Hermann, Foto: Gaby Gerster
Eigentlich ist gar nichts Besonderes passiert. Nichts jedenfalls, worüber man lange reden könnte. Und doch ist von einem auf den anderen Augenblick alles verändert. Wir sind auf einmal in etwas Neues hineingeraten. Es ist fast so, als hätte sich ein Zimmer geöffnet, aus dem heraus wir zurück in das Leben blicken, das wir einmal hatten. Ahnungsvoll, erstaunt, manchmal auch traurig,. Um diese Kippfigur des Daseins kreisen die 17 Geschichten des neuen Erzählbandes „Lettipark“ (S. Fischer Verlag) von Judith Hermann. Es sind meisterhafte Shortcuts über das Geheimnis der Veränderung und die Frage, wie wir an dem festhalten, worauf es ankommt. Judith Hermann stellt ihren Erzählband im Literaturhaus vor. Moderation: Heide Soltau.

Sogar der stets gestrenge Marcel Reich-Ranicki gab zum Erscheinen ihres Debüts seinen väterlichen Segen: „Wir haben eine Autorin bekommen, eine hervorragende Autorin. Ihr Erfolg wird groß sein.“ Und so kam es, Judith Hermanns Debüt „Sommerhaus, später“ wurde in 17 Sprachen übersetzt, es ist der bis heute vermutlich größte internationale Erfolg eines Erzählbandes aus der deutschen Literatur in den vergangenen Jahrzehnten. Mit „Nichts als Gespenster“ (2003) und „Alice“ (2009) hat Judith Hermann zwei weitere Erzählbände vorgelegt, vor zwei Jahren erschien dann ihr Romandebüt „Aller Anfang“, weil es halt doch irgendwann ein Roman sein muss, den der Literaturbetrieb und die Leser den Autoren hierzulande abverlangen, das gilt auch dann, wenn sie so gefeierte Erzähler von Kurzgeschichten sind wie die mit dem Kleist- und dem Hölderlin-Preis ausgezeichnete Hermann. Die Reduktion und Lakonie von Judith Hermanns Sprache war als Möblierung der langen Strecke einer Romanhandlung jedoch eine Bürde, während sie auf den wenigen Seiten ihrer Erzählungen an genau den richtigen Stellen der Erzählräume offen lassen, was offen bleiben muss, damit sich die ganze existentielle Wucht des Gesagten entfalten kann.
In der Erzählung „Gehirn“ erfahren wir von Philipp und Deborah, die lange vergeblich versuchen ein Kind zu bekommen und sich dann dazu entschließen, den kleinen Alexej aus Russland zu adoptieren. Sie machen eigentlich alles richtig, nehmen sich Zeit für das Kind, lassen es selbst entscheiden, versuchen sich als Paar nicht aus den Augen zu verlieren, sind offen miteinander. Dennoch finden sie sich nach einem Jahr an „einer Gabelung des Weges“, die eine Entscheidung erfordert. „Das Kind trinkt das Glas Wasser aus, stellt das leere Glas ganz allein und behutsam zurück auf den Tisch. Es sieht niemanden an.“ Vielleicht ist etwas Endgültiges geschehen, man ahnt, wie bedroht das gemeinsame Leben ist, auserzählt wird die Geschichte nicht.
In existentielle Situationen führen alle Erzählungen des Bandes, einige auch im Rückblick, so wie „Inseln“, wo die Erzählerin sich an ihre Freundin Martha erinnert, der sie schon lange nur noch gelegentlich begegnet, obwohl sie eine innige Freundschaft mit ihr verband. Als sie gemeinsam eines Tages im Haus eines Freundes mit einer Hausdurchsuchung konfrontiert sind, ist es damit dann unvermittelt vorbei. Warum, erfahren wir nicht: „Wir stehen im Grunde bis heute, wir stehen noch immer barfuß und Hand in Hand auf der Terrasse dieses Hauses auf der Insel,“ sagt Martha am Ende, „und über die schönen blauen Berge kommt in großen Schritten schon die Nacht.“ Was ist passiert? Die beiden Protagonistinnen haben „keine Antwort“ darauf.
In dieser Sprachlosigkeit sind alle Figuren des Bandes gefangen. Auch Rose, die im Supermarkt die einst starke und kraftvolle Elena beobachtet, deren Schönheit stumpf wurde. Etwa weil Page, der Trinker sich in heftigem Liebeswerben im Lettipark mit dem Fotoapparat auf die Spuren von Elenas Kindheit begeben hat? Ella bekommt, während sie auf ihren Freund Carl wartet, Besuch von einem Jungen, der ihr ein zerknittertes Foto von Sigmund Freuds Couch zeigt. Hat es etwas damit zu tun, dass Carl nicht zurückkommt? Niemals wieder zurückkommt?
„Das Entscheidende wird nie gesagt. Doch die Augenblicke sind sehr beredt.“ Das hat Helmut Böttiger einmal über die Erzählungen von Judith Hermann geschrieben und es trifft auf alle ihr Erzählungen zu. Ergänzen könnte man mit „Lettipark“, dass Elena, Rose, Page und all die anderen deshalb keine Worte dafür finden, weil das Entscheidende für die Abbrüche, die Zerwürfnisse, die verlorenen Lieben umso weniger greifbar wird, umso mehr sie danach suchen. Was am Ende bleibt, ist so eine Art heilsame Magie, mit der sich die Sprachlosigkeit überwinden lässt: Judith Hermanns Erzählungen haben sich die Strategie der Erinnerung zu eigen gemacht, das Eigentliche stets mit Nebensächlichem zu überblenden, ganz gleich, ob es ein schönes oder schreckliches Erlebnis war. „Es fallen einem wirklich die merkwürdigsten Dinge wieder ein, von einem Moment auf den anderen“, sagt Greta, nachdem sie in „Manche Erinnerungen“ von einem lange zurückliegenden Badeunfall erzählt hat, der ihr ganzes Leben veränderte, nur weil sie für einen Augenblick unaufmerksam gewesen ist. Es war dieser eine Augenblick, in dem sie vielleicht eine große Liebe verloren hat. Aber das können wir nur vermuten, ausgesprochen wird es nicht.

Literaturhaus, Schwanenwik 38, 19.30 Uhr. Eintritt: 12.-/8.- Euro.


Lesung mit Nina Jäckle

„Der lange Atem“




„In ihrer Prosa“, so hieß es in der Begründung der Jury des Italo-Svevo-Preises, mit dem Nina Jäckle im letzten Jahr ausgezeichnet wurde, „halten sich Anmut und Präzision die Waage, und zu ihren ästhetischen Vorzügen zählen nicht zuletzt das Gespür für Rhythmus und Musikalität der Sprache. Ein eher altmodisch anmutender Begriff wie Takt trifft zu, und zugleich vibriert in dieser Prosa, was Ingeborg Bachmann ›Starkstrom Zeitgenossenschaft‹ genannt hat.“ Nina Jäckle, geboren 1966 in Schwenningen am Neckar, hat mit ihrer vor allem an der französischen Moderne geschulten Literatur in den letzten Jahren ein großes Formenrepertoire bedient, es sind Romane und Hörspiele erschienen, Erzählungen, Kurzfilme und ein Theaterstück, die ein unverkennbar eigener Sound, ein eigener Stil verbindet.

In ihren beiden zuletzt erschienenen Büchern „Zielinski“ (2011, Klöpfer & Meyer) und „Der lange Atem“ (2014, Klöpfer & Meyer) erzählt Nina Jäckle in einer hochreflektierten Sprache und in ganz verschiedenen Szenarien, was mit uns geschieht, wenn die gewohnten Koordinaten des Lebens sich auflösen und neu justiert werden müssen. Während „Zielinski“ die Geschichte einer wahnhaften Selbstentfremdung ist, hat Nina Jäckle mit „Der lange Atem“ eine Novelle vorgelegt, in der eine Katastrophe alle Gewissheiten, die ganze vertraute Welt innerhalb weniger Minuten zerstört: „An jenem Tag“, sagt der Erzähler, „haben wir erlebt, wie wichtig es ist, dass nicht geschieht, was schlimmstenfalls geschehen könnte, und ebenso haben wir erlebt, dass tatsächlich geschieht, was schlimmstenfalls geschehen könnte.“ Es ist der 11. März 2011, fast 20.000 Menschen verlieren an der japanischen Küste durch einen Tsunami ihr Leben. Ein Zeichner der Polizei, der den Toten anhand von Fotos ein menschliches Antlitz zurückgibt, damit die Angehörigen sie identifizieren können, erzählt von dem Versuch, mit der Katastrophe zu leben und nicht in ihr verloren zu gehen. Am Ende ist dann aber doch alles verloren, nur dieser Versuch, den Abwesenden ein Gesicht zu geben, bleibt bestehen. „Einmal im Jahr schließt das ganze Land die Augen, senkt das ganze Land den Kopf, und alles, was uns geblieben ist, weist darauf hin, dass alles andere fehlt. Das Bleiben hat an jenem Tag seine Bedeutung verändert.“ In der Freien Akademie liest Nina Jäckle aus „Der lange Atem“. Moderation und Gespräch: Wolfgang Hegewald.

Freie Akademie in Hamburg, Klosterwall 23, 19.00 Uhr, 8.-/5.- Euro.


Goldener Handschuh

„Lokaltermin mit Heinz Strunk“




„Mensch, Fritz, hier stink‘s aber wieder.“ Das fällt allen, die seine Wohnung in der Zeisstraße 74 in Ottensen betreten, zuerst auf. Den Grund weiß ja keiner. Nur der Fritz selber, den im Goldenen Handschuh und im Elbschlosskeller am Hamburger Berg auf dem Kiez alle Fiete nennen. Von ihm erzählt Heinz Strunk in seinem neuen Roman „Goldener Handschuh“, einem düsteren, sehr traurigen und zugleich hellsichtigen Heimatbuch, in dessen Zentrum die Geschichte des berühmten Hamburger Frauenmörders Fritz Honka steht. In der Fabrik stellt Heinz Strunk seinen Roman vor.

In seinen bisherigen Romanen hat Heinz Strunk, der auch als Musiker und Entertainer sehr erfolgreich ist, vor allem aus seinem eigenen Leben erzählt, in seinem Debüt, dem Bestseller „Fleisch ist mein Gemüse“, von einem Musiker, der mit einer Tanzkapelle durch Norddeutschland tingelt. Skurrile und dabei doch sehr treffende Milieubeschreibungen sind das Markenzeichen seiner Literatur. In seinem neuen Roman leuchtet er die Nachtseite Hamburgs in den 1970er Jahren aus – und damit eine nicht allzu lange nach dem Krieg und der Nazi-Diktatur verrohte Gesellschaft.
Fritz „Fiete“ Honka hat Anfang der 1970er Jahre im Goldenen Handschuh einen Stammplatz. Wer sich in einer klammen Märznacht spät abends am Hamburger Berg in eine der durchgehend geöffneten Kaschemmen verirrt, wird auch heute noch solche treffen, wie die, mit denen er sich dort ständig bis zur Besinnungslosigkeit besäuft. Damals sind ihre Namen Fanta-Rolf, Soldaten-Norbert, Tampon-Günter, Doornkaat-Willy oder Ritzen-Schorsch, Inge, Gertrud, Gisela. Die Doppelnamen muss man sich verdienen, die sind eine Auszeichnung, so wie der Spitzname Fiete, jedenfalls denkt sich Fritz Honka das so zurecht, und dass er was Besonderes ist: „So was denkt er öfter“ auch. Fritz Honka wird tatsächlich als Albtraum-Mann, als Inbegriff des grausamen Mörders berühmt. Seine Opfer sind ältere, wehrlose Frauen Alkoholikerinnen, die er im Goldenen Handschuh abschleppt, tage- und wochenlang misshandelt. Wenn er sie dann satt hat, erdrosselt er seine Opfer, zerstückelt die Leichen und versteckt sie in einer Abseite seiner Wohnung. Heinz Strunk lässt all das nicht aus, er erzählt von den Morden, von den „Anbahnungen“, vom „Vernichtungstrinken“, von dieser fatalen Sprachlosigkeit am untersten Rand der Gesellschaft, in dem sich das abspielt.
Doch im Handschuh stürzen auch ganz andere Leute ab, zum Beispiel der Reedersohn WH3. Heinz Strunk verbindet die Geschichte des Frauenmörders Honka in seinem Roman mit Berichten aus der obersten Etage der Hamburger Gesellschaft, wo man „von Dohren“ heißt, „von Lützow“ oder „Thiessen“. So viel zivilisierter als unter den Fietes dieser Welt, geht es dort nicht zu. Und im Goldenen Handschuh sind sie sowieso alle gleich, ob Reeder oder Nachtwächter, die Hoffnung auf ein bisschen Glück lassen sie dort alle für den großen Suff fahren. Und werden, ganz gleich wie sie heißen, gestraft durch die Erbärmlichkeit, in die der Suff sie entlässt.
Der Ausblick, den Heinz Strunk in seinem Roman dann gibt, ist fast schon versöhnlich: Rolf Bossi, ein Staranwalt, übernimmt 1976 die Verteidigung von Fritz Honka, der wegen Mordes in einem Fall und Totschlag in drei Fällen zu einer Freiheitsstrafe von 15 Jahren verurteilt wird. Er stirbt nach Verbüßung seiner Haftstrafe 1998 in der Psychiatrie in Ochsenzoll. Der Albtraum ist irgendwie in einer zivilisierteren, einer humaneren Welt angekommen, in der es Richter gibt, Gefängnisse, Heime, Psychologen, Therapeuten – und Romane wie „Der goldene Handschuh“ von Heinz Strunk, die eine ganz eigene Sprache für das Unsagbare finden, für einen wie diesen Fritz Honka und diese erbärmlich kalte und gefühllose Welt, in der er groß werden musste.

Fabrik, Barnerstraße 36 ,20.00 Uhr.


Literatur, Ökonomie und Politik im Gespräch

„Goethe trifft Karl Marx“

Sahra Wagenknecht, Fraktionsvorsitzende der Partei DIE LINKE und studierte Philosophin, und Manfred Osten, studierter Philosoph, Musik und Literaturwissenschaftler, sprechen über moderne Finanzwirtschaft, über Goethe als Jurist, Ökonom und Politiker und über die Aktualität von Karl Marx.

Kampnagel, Jarrestr. 20 ,20.00 Uhr, 8.- Euro.


Fußball-Lesung

„FC St. Pauli – eine große Liebe“

Fußball-Lesung mit dem Stadionsprecher Rainer Wulff und den St. Pauli-Fans Thomas Nast und Ina Bruchlos.

Mathilde Bar Ottensen, Kleine Rainstraße 11, 20.15 Uhr, 7.- Euro.


Sta*-Club

„Homevideo“

Zum Sta*-Club präsentieren Karin Kaci und Jan Braren das Buch zu dem Film „Homvideo“.

Literaturhaus, Schwanenwik 38, 10.30 Uhr. Eintritt frei. Alter: ab 14 Jahre bzw. 9. Klasse. Anmeldung für Schulklassen unter Tel.: 040-22702014.


Philosophieren für Kinder

„Gedankenflieger“

Im Rahmen der Reihe philosophiert Kristina Calvert mit Kindern ab 6 Jahren zum Thema „Mein schönster Traum: Woher weiß ich, was gut für mich ist?“ und liest aus „Der Kirschbaumjunge“ von Mark und Rowan Sommerset.

Literaturhaus. Schwanenwik 38, 14.30 Uhr, 4.- Euro. Karten und weitere Infos gibt es unter www.julit-hamburg.de, anmelden kann man sich unter Tel.: 040-22 70 20 14.


Poetry Slam

„Best of Poetry Slam“

Vier Slamer aus der A-Liga der deutschen Szene präsentieren sich in 10 Minuten dem Publikum. Moderation: Michel Abdollahi.

Ernst Deutsch Theater, Friedrich-Schütter-Platz 1, 20.00 Uhr, 11.- bis 19.- Euro inkl. HVV.


Literatur in Hamburg