Montag 27.05.2019


Lesung mit Frank Schulz

Memoir mit Tiefenschärfe

Frank Schulz
Frank Schulz, Foto: Anne Weychart
Seine Literatur gehört zum Feinsten, was in Deutschland gegenwärtig unterwegs ist, und er ist so oft und so euphorisch für seine humoristisch- realistische Prosa gefeiert worden, dass man das Lob vorerst auch einmal auslassen kann, um gleich ein Rotkehlchen zu erwähnen. Das sieht einen auf dem neuen Erzählband von Frank Schulz so schön von der Seite an, nicht frech oder forsch, sondern inständig und direkt und darüber steht dann »Anmut und Feigheit«. Es ist eine sehr gelungene gestalterische Übersetzung des Titels und der Erzählung »Rotkehlchen«, die fast am Anfang einer Chronik steht, mit der Frank Schulz, beginnend 2018, bis ins Jahr 1950 zurückwandert. Für sein hochpoetisches Memoir hat er die Geheimratsecken der späteren Jahre so gut ausgeleuchtet wie frühe Wunder und die sich so unweigerlich einschleichende »Verböserung der Welt«. Frank Schulz stellt seinen Erzählband im Ledigenheim vor.

Von der Horrorstory über ein Fragment, die Anekdote, Schnurre und Farce, bis zum Tagebucheintrag, einem Memoir und einer Flaschenpost, in seinen 23 neuen Erzählungen spielt Frank Schulz einen ganzen Formenreigen durch, sogar »Zwei Briefe in die Zukunft« sind dabei. Da schreibt Daniel seiner Klassenkameradin Lisa 1997 einen Brief, den sie 20 Jahre später öffnen und lesen soll. Lisa antwortet ihm 2017 mit einem Brief, den Daniel erst im Jahr 2037 lesen wird. Und na klar, was soll schon groß drinstehen? Nicht viel, das bei Frank Schulz auf nur wenigen Seiten aber doch in einem Resümee über die Unwägbarkeiten unserer Zeit kulminiert und man würde halt gerne wissen, was Daniel in 20 Jahren darüber sagt – auch zu Herrn Brosamer und seinem »Rempferd«. Dieser typische Sound, in dem er »in allen Humorkategorien blind mitfiedeln kann«, wie Sven Regener bei der Verleihung des Kasseler Literaturpreises für grotesken Humor an Frank Schulz sagte, er ist in den Erzählungen überall am Werk, bezieht seine Dynamik aber keineswegs nur aus der Lust an Ironie und Heiterkeit. In der großartigen Auftakterzählung »Szenen in Beige« begegnen wir einem gewissen Kortsch, der sich vor seinem sechzigsten Geburtstag durch einen leichten Schlaganfall mit der »schwarzen Pädagogik des Schicksals« konfrontiert sieht und mit der Frage, was die attraktive Mittdreißigerin nur an ihm findet, mit der er glücklich zusammenlebt. Das darauf folgende Fragment »Rotkehlchen« ist ein berührender autobiographischer Bericht über das Sterben und den Tod der Mutter, der auch mit dem Gesamttitel »Anmut und Feigheit« des Bandes überschrieben sein könnte. Von einer leisen Ironie wird der Text hier höchstens noch getragen, wenn Frank Schulz sich im Gespräch mit den Rotkehlchen wiederfindet, die ihn an seine Mutter erinnern, mit deren Tod eine »Gefühlsfestung« verloren gegangen ist. Dieser Gesamtangriff auf die selbstverständlichen Koordinaten des Lebens ist dem großartigen Erzählband insgesamt eingeimpft und klingt auch an, wenn »Der Ritter von der Rosskastanie« sich mit dem »Tag der Kettensäge« konfrontiert sieht oder Büttner »stumm um die tiefere Enttäuschung ringt«. Für die präzisen Resultate hart erkämpfter Lebenserfahrung findet Frank Schulz dann aber doch noch »wohlpronocierte S-Laute: Einsch und einsch ischt tschwei. Tschwei und tschwei ischt vier. Vier und vier ….«

Ros e.V. im Ledigenheim, Rehhoffstr. 1–3, 19.00 Uhr, Eintritt frei, Spenden erwünscht.





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