Donnerstag 06.02.2020


HAM.LIT 2020

Lange Nacht junger Literatur und Musik

Masha Qrella
Masha Qrella, Foto: Roraius
Familie, Herkunft und Politik, damit lässt sich nahezu alles einfangen, was bei der Grand Tour der HAM.LIT durch die junge Literatur in den Blick kommt. Dennoch ist es ein weiter Horizont, den die 15 Autor*innen des Abends öffnen. Schon die Schauplätze könnten unterschiedlicher nicht sein, ein so abgelegener Ort wie ein 1062 Seemeilen vor Peru liegendes Atoll kommt da ebenso vor wie ein Reihenhaus in München, das »Hawaii«-Viertel in Heilbronn, der Freizeitpark »Tropical Islands«, Bujumbura in Burundi oder das Haus in Dallas, in dem der Superstar Dirk Nowitzki lebt. Renate, Frau Goebel und der Taubenzüchter Willy-Martin sind dagegen so wenig prominent wie Mira, die in Genf für die Vereinten Nationen arbeitet oder der pensionierte Ingenieur Otto. Der hat es dafür faustdick hinter den Ohren und schon deshalb wünscht man sich: »Erzähl, erzähl, erzähl«.

Wo komme ich her, wo will ich hin, was soll ich hier? Das ist der kleine Fragenkatalog, von dem mit jeder Literatursaison eine ganze Phalanx von Romanen angetrieben wird. Darunter sind klassische Bildungs-, Entwicklungs- und Familienromane und immer wieder auch Bücher, die sich solchen Zuschreibungen lustvoll entziehen. Doch sie alle werden befeuert von dem scheinbar unermesslichen Möglichkeitsraum nebeneinander existierender Lebensentwürfe und Kulturen in einer Welt, die immer näher zusammengerückt ist. Wirtschaft, Kultur und Politik unterscheiden sich auch heute fundamental zwischen Ländern und Kontinenten, doch ihre Grenzen sind durchlässig, und sie werden es bleiben, schon weil das unablässige Grundrauschen der Medien in Edinburgh of the Seven Seas so vernehmbar ist wie in der Wüste Gobi.

Gleichzeitig ist die Sehnsucht nach Verortung und Orientierung zu einem bestimmenden Gefühl geworden. Bei der HAM.LIT wird sie zum Ausgangspunkt gleich mehrerer neuer Romane: Karosh Taha erzählt in »Der Bauch der Königin«, ihrem zweiten Roman, der im April bei DuMont erscheint, von der alleinerziehenden Mutter Shahira, deren Freizügigkeit und Nonkonformität in der kurdischen Gemeinschaft ihres Viertels in Deutschland Aufsehen und Anstoß erregt. Amal und Raffiq, die Freunde ihres Sohnes Younes, werden durch sie mit ihren eigenen Sehnsüchten und Vorurteilen konfrontiert. Ungewöhnlich ist die Erzählperspektive des Romans, der als Wendebuch alternative Geschichten und Entwicklungen anbietet und dadurch zeigt, dass es mehr als nur eine Wahrheit gibt.
Ein »brisantes Debüt über Heimatlosigkeit und Toleranz« (Benedict Wells) stellt Cihan Acar mit seinem neuen Roman »Hawaii« (Hanser Berlin) vor. Er erzählt von einem jungen Helden, der nach einem Unfall seine Karriere als Fußballspieler aufgeben muss und desillusioniert und voller Sehnsucht durch ein heruntergekommenes Viertel in Heilbronn streift.

Eine Jahrzehnte umspannende Familiengeschichte zwischen Iran und Deutschland erzählt Marius Hulpe in seinem Romandebüt »Wilde grüne Stadt oder Im Labyrinth des entwurzelten Lebens«, während Dana von Suffrins Debüt »Otto« zwischen Siebenbürgen, Israel und Deutschland spielt. Im Herbst wurde der Roman als bestes deutschsprachiges Debüt beim Harbour Front Literaturfestival mit dem Klaus-Michael Kühne-Preis ausgezeichnet und hat den Debütpreis des Buddenbrook-Hauses erhalten. Es erzählt mit viel schwarzem Humor von einem jüdischen Patriarchen, seiner Familie, seinen Ländern und Abenteuern. Highlights der HAM.LIT sind auch zwei weitere vielgelobte Romane aus der vergangenen Saison: Mit ihrer großartigen Emanzipationsgeschichte »Miroloi« gibt Karen Köhler ein Gastspiel, Nora Bossong lädt mit »Schutzzone« noch einmal auf die weltpolitische Bühne der Vereinten Nationen. Eher ein Geheimtipp dürfte dagegen das Crossover »Woanders« sein, das Masha Qrella vorstellt. Bei ihr dreht sich alles um die großartigen Gedichte von Thomas Brasch, die sie in einer Mischung aus Konzert, Performance und Installation vorstellt. Sie habe versucht, sagt sie über ihr Programm, »das Ungeheuerliche erst mal zu denken«, das Thomas Brasch als »Bleiben will ich, wo ich nie gewesen bin« herbeigesehnt hat.

Uebel & Gefährlich und Terrace Hill, Feldstr. 66, 19.00 bis 23.00 Uhr, € 22,–/18,–





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