Freitag 10.09.2021


Tagebuch eines Jahres

»Nu is zu«

Carolin Emcke
Carolin Emcke, Foto: Andreas Labes
Bekannt wurde sie durch ihre Reportagen und vor allem auch durch ihre Kolumnen über Krisenschauplätze, Politik, Gesellschaft und ganz Alltägliches. Im letzten Jahr hat die mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnete Publizistin und Philosophin Carolin Emcke dann ein »Journal« (S. Fischer) geschrieben, mit dem sie das epochale Ereignis der Pandemie beobachtend und erzählend begleitete. Es ist der Versuch, die Innenschau eines Tagesbuchs im Lockdown durch einen wachen Blick in die Welt zu überwinden.

Am 23. März 2020, einen Tag nachdem der erste Lockdown in Deutschland begonnen hatte, fängt Carolin Emcke an zu schreiben und stromert vorher zuerst einmal durch die Straßen Berlins. Spaziergehen ist noch erlaubt, also zieht die »Landkarten-Fetischistin« eine Bezirkskarte von Kreuzberg aus dem Schrank und begibt sich auf eine Wanderung »um Kreuzberg herum«, die sie an diesem Tag nicht zu Ende führt. Am Abend wird zu Hause »Scrabble« gespielt. Für zwei Monate setzt sie das Tagebuch ununterbrochen fort und bezieht in ihre Gegenwartsbeobachtung schnell die verschiedensten Weltgegenden ein: Schon in ihrem Eintrag für den 24. März hat sie die USA im Blick, aber auch Megastädte wie Lagos oder Dhakka, sie fragt »Wo ist Europa?« und trifft sich am Abend via Skype-Schaltung nach Jerusalem mit ihrer Freundin Salwa. Am 30. März 2020 fällt ihr als Kommentar zu den Notstandgesetzen ein, die es Viktor Orbán in Ungarn erlauben, ab sofort per Dekret zu regieren: »Nu is zu«. Das steht auf einem Schild in einem Spielwaren-Laden in Kreuzberg. Und am Tag darauf erweitert sie die Reaktion von Ursula von der Leyen auf Orbán um all das, was die EU-Kommissionspräsidentin zu sagen versäumte. Nur wenige Seiten später wirft sie einen Blick auf die Situation der Sinti und Roma in Ungarn, Rumänien, der Slowakei und Bulgarien und erzählt vom Misstrauen der politischen Eliten in Lateinamerika gegenüber der eigenen Bevölkerung, um nach einem Ausflug zu den »langlebigsten Illusionen über homosexuelle Paare«, bei der Aufforderung anzukommen, sich selbst Stoffmasken zu nähen. In ihrem Haushalt konnte das zwar nicht umgesetzt werden, aber man ist in der Nachbarschaft fündig geworden. Es ist dieser breite Mix aus privaten Erlebnissen, philosophischen Betrachtungen und dem Blick auf die Pandemie als globales Ereignis, der ihr »Journal« so lesenswert macht. Den Spaziergang um Kreuzberg herum hat Carolin Emcke dann tatsächlich noch gemacht, nachdem sie ihr Tagebuch längst beendet hatte, es ist der Auftakt zu einem Resümee Ende November – da hatte der zweite Lockdown gerade begonnen.

»Hoffnung und Trauer in Zeiten der Pandemie« ist der Titel des Programms das Carolin Emcke zum Harbour Front Literaturfestival gemeinsam mit Anna Prohaska und dem La Folia Barockorchester in der Elbphilharmonie präsentiert.

Harbour Front Literaturfestival in der Elbphilharmonie, Großer Saal, Platz der Deutschen Einheit 1, 20.00 Uhr, € 15,– bis € 53,–





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