Sonntag 19.09.2021


Lesung mit Moritz Rinke

Die Lüge und die Wahrheit und die königliche Post

Moritz Rinke
Moritz Rinke, Foto: Peter Sickert
Als Romancier debütierte Moritz Rinke vor über zehn Jahren mit dem Worpswede-Roman »Der Mann, der durch das Jahrhundert fiel«, der zu einem gefeierten Bestseller wurde. Er war schon davor einer der erfolgreichsten deutschen Dramatiker der Gegenwart, seine Theaterstücke werden bis heute national und international gespielt und erreichen ein Millionenpublikum. Jetzt ist sein zweiter Roman »Der längste Tag im Leben des Pedro Fernández García« (Kiepenheuer & Witsch) erschienen. Er erzählt in fünf Etappen und 40 Geschichten von einem Postboten auf Lanzarote und das mit so großer Lust am Fabulieren, dass man für die Lektüre vorausschicken muss: Gut festhalten, bevor die rasante Fahrt auf der gelben Diensthonda der staatlichen Post des Königreichs Spanien beginnt.

Postboten sind in der Literatur wie im wahren Leben zu herausragenden Leistungen fähig, das muss sich Pedro Fernández García in seinem kleinen Postbüro in Yaiza immer mal wieder ins Gedächtnis rufen. Ein Bild von dem kleinen Post-Office des amerikanischen Präsidenten und ehemaligen Postboten Abraham Lincoln in New-Salem legt er sich sogar auf seinen Sortiertisch, auf dem sonst fast nur noch Werbesendungen landen. Das ist der eher beschauliche Ausgangspunkt dieses Romans. Spielzeit ist Ende der Nullerjahre, doch die Banken- und Finanzkrise in Spanien zieht an dem kleinen Staatsbediensteten Pedro auf Lanzarote vorbei wie ein fernes Gewitter. Er kümmert sich liebevoll um seinen kleinen Sohn Miguel, ist glücklich mit seiner Lebensgefährtin Carlotta, der durch ihren Job in einem Hotel wenig Zeit für die Familie bleibt, und fährt sonst routiniert die »Europaroute«, die »Café-con-leche-Route«, die »Small-Talk-Route« und die »Nudistenroute« ab.
Ganz nebenbei erfährt man unterwegs vom frühen Tod seines Vaters, von Verstrickungen seines Großvaters im Dritten Reich, von der Begeisterung seines Sohnes für Lionel Messi und lernt den Unterschied von Blocklava und Stricklava kennen. Der weite Horizont, den Moritz Rinke in diesem Roman öffnet, zeichnet sich da schon langsam ab. Als dann Tenaro wieder auftaucht, sein einst bester Freund, und ihn zu einem Ausflug nach Fuerteventura überredet, ist in Pedros Leben nichts mehr wie zuvor. Carlotta zieht mit Miguel nach Barcelona, und der königliche Postbote liegt vor lauter »Liebesschmerzen« völlig fertig unter seinem Sortiertisch, wo er eine unheimliche Entdeckung macht.
Die darauf folgenden vier Teile des Romans sind, man kann es nicht anders sagen, eine ganz und gar irrwitzige Heldenreise, in deren Verlauf Pedro die Wahrheit über seine Familie und seine Herkunft erfährt, eine Kiste mit lauter nicht zugestellten Briefen findet, versucht, sich mit einer »MG-34-Sonderedition« das Leben zu nehmen und den Hund des Nobelpreisträgers José Saramago entführt. Weitere Spoiler findet man auf Seite 236 in einer Zusammenfassung der wesentlichen Ereignisse, die allerdings nicht sehr ergiebig ist. Moritz Rinke hat die vielen kleinen Episoden, aus denen sich das große Ganze dieses Romans zusammenfügt, so fein miteinander verflochten, dass man die große Geschichte unbedingt gelesen haben muss - bis zum Finale, wo sich ganz nebenbei ankündigt, dass das scheinbar immer so weitergeht, mit der Lüge und der Wahrheit und der königlichen Post.

Harbour Front Literaturfestival in der St. Katharinen Kirche, Katharinenkirchhof 1, 19.30 Uhr, € 18,–






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