Mittwoch 12.10.2022


Lesung mit Karen Duve

Parforcejagd mit der Kaiserin

Karen Duve
Karen Duve, Foto: Kerstin Ahlrichs
Sie ist eine der populärsten Frauengestalten der Gegenwart, diese Elisabeth von Österreich, die 1837 in München geboren wurde und 1898 in Genf einem Attentat zum Opfer fiel. Netflix hat der »Kaiserin« gerade eine Miniserie gewidmet, sie folgte in nur wenigen Monaten auf eine »Event-Serie« von RTL und den Spielfilm »Corsage« der österreichischen Regisseurin Marie Kreutzer, in dem Sisi als moderne Frau in der Midlife-Crisis gezeigt wird. Von einer Frau, die ihrer Zeit voraus war und bis heute immer noch unterschätzt wird, erzählt auch Karen Duve in ihrem neuen Roman »Sisi«. Im Literaturhaus stellt sie das Buch vor. Moderation: Thomas Böhm.

In »Macht« (2016) wirft Karen Duve eine böse Dystopie auf, in der die Welt kurz vor dem Untergang steht, vorangegangen ist dem Roman ein Sachbuch, in dem sie erklärt »Warum die Sache schiefgeht« (2014). Männer treten in beiden Büchern vor allem als »Egoisten, Hohlköpfe und Psychopathen« auf, die »uns um die Zukunft bringen«. Schon in ihrem zuletzt erschienen Roman »Fräulein Nettes kurzer Sommer« (2018) hat sich die vielfach ausgezeichnete Schriftstellerin daraufhin einer starken Frauenfigur zugewandt und erzählt von der rebellischen Dichterin Annette von Droste-Hülshoff, die so überhaupt nicht in die Herde ihrer adligen Verwandten passen wollte.
Das trifft auch auf Elisabeth von Österreich-Ungarn zu. Eigentlich hätte sie »ein Buch über Pferde schreiben« wollen, schickt Karen Duve, selbst passionierte Reiterin, auf dem Buchumschlag voraus, und sei darüber auf die Kaiserin gekommen. Als Reiterin begegnen wir Sisi gleich zum Auftakt bei einer Fuchsjagd, ausgerechnet in Althorp. Sisi liebte England vor allem wegen der Pferde und war mehrfach auf dem Stammsitz der Adelsfamilie Spencer zu Gast, wo heute Diana, die Princess of Wales begraben liegt, mit der sie vieles gemeinsam hat.
»Ich bin erwacht in einem Kerker, und Fesseln sind an meiner Hand«, schrieb die junge Sisi in einem Gedicht. Verheiratet wurde sie als Sechzehnjährige, »a Provinzlerin, aber bildhübsch halt«, raunzte das Wiener Boulevard bei ihrer Hochzeit. Zu ihren Lebzeiten hätte niemand ernsthaft gedacht, dass ausgerechnet Sisi zur populärsten Gestalt der gesamten Habsburger-Dynastie aufsteigen könnte. Im Ranking der »100 einflussreichsten Frauen der Menschheitsgeschichte« auf whoswho.de wird sie heute auf Platz 19 geführt, einen Platz nach der Universalgelehrten Hildegard von Bingen und einen Platz vor der Philosophin Simone de Beauvoir. Wie ist das möglich, bei einer Frau, die nie aktiv politischen oder gesellschaftlichen Einfluss genommen hat?
Mit nur 21 ist Sisi schon Mutter von drei Kindern, ihre Ehe mit Franz Joseph stürzt in eine tiefe Krise, als die älteste Tochter mit nur zwei Jahren stirbt. Immer häufiger flieht sie daraufhin aus der »Kerkerburg« in Wien mit ihren steifen Konventionen. Sie reist durch Europa, den Orient, unterhält Fluchtburgen auf Madeira, Mallorca, in Triest, Meran und auf Korfu, wo sie sich eigens einen Palast bauen lässt. Ein regelmäßiger Zufluchtsort ist das Schloss Gödöllö bei Budapest, wo weite Strecken von Karen Duves Roman spielen. Sie stellt uns Sisi in einem kurzen Zeitfenster von 1876 bis 1877 vor. Fast 100 Bücher stehen im Literaturverzeichnis, das sie am Ende auflistet, sie hat Briefe, Zeitungsartikel, Tagebücher und Lebenserinnerungen für den Roman durchforstet und lässt vieles zitierend einfließen.
Die naheliegenden Projektionsflächen, die sich für Sisi anbieten und sie in ihren Widersprüchen heute so spannend erscheinen lassen und viel zu ihrer Popularität beitragen, vom Schönheitswahn der Kaiserin über ihren Fitnesskult bis zu den Essstörungen, fängt der Roman eher am Rande ein. Ins Zentrum rückt dagegen eine Parforce mit der Kaiserin, die eine der besten und tollkühnsten Reiterinnen ihrer Zeit und geradezu süchtig nach wilden Reitjagden war. An ihre Seite gesellt sich immer wieder der legendäre Jagd- und Rennreiter Bay Middleton, der die Kaiserin nicht nur für ihr reiterliches Können bewundert. Ein freieres zweites Selbst findet Sisi in ihrer 18-jährigen Nichte Marie Louise, einer ebenfalls hochbegabten Reiterin und Fechterin, die auch noch hübsch ist. Doch die Tochter ihres Bruders und einer Schauspielerin ist eigentlich nicht standesgemäß und gerät bald schon in ein intrigantes Spiel aus Verführung und Verrat, für das vor allem ihre manipulative Tante Sisi die Regeln vorgibt. Dass es am Ende weder für Marie Louise noch für ihre Tante gut ausgeht, lässt der Roman offen, vielleicht für einen Fortsetzung, in der dann Kronprinz Rudolf und seine Geliebte eine Hauptrolle spielen.

Literaturhaus, Schwanenwik 38, 19.30 Uhr, € 14,–/10,–, Streaming € 5,–






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