Dienstag 26.09.2023


Lesung mit Rachel Yoder

Ein ganz anderer Mensch

Rachel Yoder
Rachel Yoder, Foto: Nathan Biehl
Das knallrote Buchcover zeigt drei rohe Steaks in zarten Frauenhänden, darunter steht in weißen Großbuchstaben »Nightbitch«. Auf den Büchertischen der Buchhandlungen wird das krasse Motiv auffallen, soviel ist sicher. Doch die US-amerikanische Schriftstellerin Rachel Yoder, deren gefeierter Debütroman in diesem September in der deutschen Übersetzung von Eva Bonné erscheint, geht es um mehr als bloße Provokation. Ihr Roman ist eine furiose Kampfansage und gleichzeitig die poetische Ausführung einer populären feministischen Denkfigur. Er erzählt von einer Mutter, die für ihr Baby alles aufgibt. Und von ihrer Selbstermächtigung durch die kuriose Verwandlung in einen Hund. Rachel Yoder stellt ihren Roman in der St. Pauli Kirche vor.

Ein oft zitiertes Credo der US-amerikanischen Feministin, Biologin und Wissenschaftstheoretikerin Donna Haraway lautet: »Make kin, not babies« / »Macht euch verwandt, nicht Babys«. Von der jungen Protagonistin in Rachel Yoders Roman kann man sagen, dass ihr am Ende beides gelingt, sie bekommt ein Baby und macht sich verwandt, wobei das eine wie das andere am Anfang eine einzige Tortur ist. Doch der Reihe nach.

Eine junge Galeristin und Künstlerin bekommt ein Baby und hat es sich sehr viel einfacher vorgestellt als es dann ist. Der Versuch, schon bald nach der Geburt wieder ins Berufsleben einzusteigen, misslingt, sie will ihren Sohn nicht in der Kindergrippe lassen, weil er sich dort nicht wohlfühlt und sie ihn dann kaum noch erlebt, aber auch das »Vollzeitmuttiland« ist bald schon ein Horrorszenario. Ohne seine Mutter will der Sohn nicht einschlafen, er hält sie auch nachts ordentlich auf Trapp, sie leidet an Schlafentzug, während ihr Mann, ein Ingenieur, sich die Woche über auf Dienstreise befindet und am Wochenende seinen gesunden Schlaf pflegt. Als sie den Jungen dann eines nachts anknurrt und einfach schreien lässt, bis ihr Mann sich kümmert, hat sie in leiser Selbstironie ihren Spitznamen weg: »Nightbitch«.

Tatsächlich wird das Unglück immer größer, sie ist überfordert, wütend, fühlt sich nicht gesehen, sogar ihr Körper verändert sich. Zuerst ist es nur eine Fantasie, ein »Bartschatten«, Eckzähne mit scharfen Spitzen, ein »Haarbüschel« in ihrem Nacken, eine instinktive Abneigung gegen Katzen. Ihr Mann lacht nur, als sie ihm davon erzählt, dass sie glaubt, sich in einen Hund zu verwandeln, doch was im Scherz beginnt und anfangs auch bei der Lektüre nur als Ausdruck der heftigen Muttermalaise erscheint, übernimmt bald als unheimliche animalische Kraft die Regie im Leben von »Nightbitch« und ihrer Familie. Als sie vier neue Brustwarzen auf ihrem Bauch entdeckt, ist ihre Verwandlung fast abgeschlossen, und mit ihr gewinnt sie nicht nur die Souveränität und Selbstständigkeit zurück, die sie als Mutter verloren hatte, sondern wird bald auch als Performance-Künstlerin gefeiert. Dass zuhause eine Hundebox als Bett für den Sohn im Elternschlafzimmer steht und sie nachts den Mond anheult, weiß ja keiner.

Rachel Yoder stellt diese Mensch-Tier-Verwandlung in ihrem Roman als biografische Wahrheit dar, nicht etwa als Fantasie, sondern als tatsächliches Ereignis. Für einen Gegenwartsroman ist das durchaus riskant, denn für alles jenseits realistischer Szenarien gibt es heute Genre-Schubladen, in denen es als Fantasy, Science Fiction, Horror oder Thriller wegsortiert wird. Bei »Nightbitch« funktioniert das nicht. Zu verstehen sind dieser Roman und seine sich verwandelnde Heldin bei einem Blick in die Gedankenwelt der eingangs schon zitierten US-amerikanischen Wissenschaftlerin und Feministin Donna Haraway. Sie hat schon 1985 in ihrem berühmten Essay »Cyborg Manifesto«, das heute aktueller ist denn je, zur Überwindung der Trennung von Mensch und Maschine und von Mensch und Tier aufgerufen. In ihrem »Manifest für Gefährten« (2007) entwirft sie mit großer Eleganz ein Panorama des Zusammenlebens der Gefährtenspezies Hund und Mensch. Es geht ihr dabei um eine neue Perspektive für eine lebbarere Welt, in der Wahlverwandtschaften das ersetzen, war wir heute als Identität begreifen. Die Ideen von Donna Haraway sind in der Bildenden Kunst seit langem zentrale Impulsgeber, das waren sie jetzt auch bei »Nightbitch«.

Rachel Yoder hat mit ihrem Roman eine grandiose Mutterschaftsfiktion geschaffen, die alles beinhaltet, was gute Literatur ausmacht: Ein großes Thema, scharfgestellt durch viel Sinn für Ironie und eine Geschichte, deren Magie lange nachhallt.

Harbour Front Literaturfestival in der St. Pauli Kirche, Pinnasberg 36, 20.00 Uhr, € 20,–