Mittwoch, 02.09.2020


Lesung mit Anna Katharina Hahn

Der Herr Linsenmaier und die Neue Welt

Anna Katharina Hahn, Foto: Heike Steinweg
Über einen Zeitraum von etwa hundert Jahren erzählt Anna Katharina Hahn in ihrem neuen Roman »Aus und davon« (Suhrkamp Verlag) aus dem Leben einer durchschnittlichen schwäbischen Mittelstandsfamilie. Eingewoben ist der Familiengeschichte ein vielschichtiges Tableau literarischer Subtexte vor allem aus Märchen und Gebeten. Die Hauptrolle spielt dabei ein Urschwabe, der Herr Linsenmaier, benannt nach seiner Füllung. Vor allem durch ihn erhält das Erzählen in diesem Roman sein besonderes Gewicht. Virtuos verknüpft es Motive der Spätromantik mit einer Familienchronik in der Moderne und den Brüchen und Verwerfungen, von denen sie bis in die Gegenwart begleitet wird.

Ein dicker fetter Pfannkuchen schält sich lautlos und in Zeitlupe von der Küchendecke. Elisabeth sieht fassungslos dabei zu und bleibt trotzdem wild entschlossen. Sie will es unbedingt noch zum Besseren richten, obwohl längst alles schief gelaufen ist. Ihre ganz typisch schwäbische, streng pietistische Erziehung lässt ihr überhaupt keine andere Wahl. Gleich mit diesem Auftakt sind wir mittendrin im reichen erzählerischen Kosmos von Anna Katharina Hahn und vor allem beim Essen, dem Leitmotiv ihres Romans. Da ist der kleine Bruno, der in der Schule nur als »Fetti« verspottet wird, weil ihm nichts Essbares entkommt. Wie die Kinder in dem berühmten Volksmärchen wird er den dicken fetten Pfannkuchen am Ende kriegen, schon weil seine Großmutter Elisabeth kaum in der Lage dazu ist, ihn und seine pubertierende Schwester Stella im Zaum zu halten.
Als Elisabeth ihrer Tochter Cornelia zugesagt hat, sich um die Enkelkinder zu kümmern, damit die alleinerziehende und berufstätige Mutter für eine kleine Auszeit in die USA verreisen kann, ist sie sich sicher, das alles, vor allem mit Unterstützung von ihrem Mann, ohne Probleme hinzukriegen. Doch der hat sich unterdessen für einen Neuanfang mit einer anderen Frau davongemacht, so wie schon zuvor Cornelias Mann Dimitrios, der sein Lebensglück unabhängig von der Familie in der alten Heimat Griechenland sucht.
Elisabeths Welt ist aus den Fugen, und sie ist untröstlich, bis in der schlimmsten Not mit den Kindern ein alter Bekannter auftaucht, der »Linsenmaier«. Aus grobem Leinen genäht und mit Linsen gefüllt, schauen seine Augen »fast lebendig« in die Welt, und er scheint alles mitzukriegen. Trostfigur und Schutzgeist war er schon für Elisabeths Mutter, jetzt beginnt er, tatkräftig unterstützt von Elisabeth, davon zu erzählen, wie er einst nach Amerika kam und dort sogar sein Innenleben hergeben musste. Gleichzeitig ist Cornelia in den Weiten des amerikanischen Hinterlandes auf der Suche nach der »amerikanischen Verwandtschaft« der Familie und nach einem »Gruselhotel«, dem »Schauplatz so vieler Albträume« ihrer Urgroßmutter. Fündig wird sie in Meadville, wo die Ereignisse ebenso wie in Stuttgart einem rassanten Finale entgegen steuern.
Nach der Lektüre reibt man sich dann doch erstaunt die Augen darüber, wie souverän und leicht sich all die Motive, Bilder, Ereignisse und kleinen Geschichten bei Anna Katharina Hahn auf einer relativ kurzen Lesestrecke in ein großes Ganzes fügen. Bleibt nur noch mit einem schwäbischen Sprichwort ganz im Geist dieses großartigen Romans zu sagen: „Ned gschompfa isch globt gnuag!«

Literaturhaus, Schwanenwik 38, 19.30 Uhr, € 12,–/8,–,


Vortrag und Gespräch

»Die Kunst des Buches«

Ralf Plenz erzählt »Wie ein Buch der besonderen Art produziert wird«NewLivingHome, Atrium, Julius-Vosseler-Str. 40, 18.00 Uhr, € 8, –/5, –


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