Samstag, 07.09.2024
11. Lange Nacht der Literatur
Was ihr seid, das waren wir
Zara Zerbe, »Phytopia Plus«, Buchhandlung Blattgold, 17.00 Uhr
Auf den ersten Blick entspricht der Debütroman »Phytopia Plus« (Verbrecher Verlag) von Zara Zerbe (Buchhandlung Blattgold, 17.00 Uhr) dem Erwartbaren: Es ist ein realistisch erzählter Roman, in dem fast alles seine vertraute Ordnung hat. Thema: Klimawandel, die Heldin heißt Aylin, arbeitet als Aushilfsgärtnerin und hat, wie man gleich zu Anfang erfährt, »noch nie einen Waschbären gefangen«. Schon mit diesem ersten Satz ahnt man, dass in dieser Geschichte, die 20 Jahre in der Zukunft spielt, viel mehr los ist, als die schon heute wütenden Hitze- und Dürreperioden und das Artensterben.
Tatsächlich geht es um den uralten Menschheitstraum von der Unsterblichkeit, der in diesem Zukunftsszenario Wirklichkeit geworden ist: Die Drosera AG, ein Biotech-Konzern mit Sitz in Hamburg, vermarktet ein Verfahren, mit dem das menschliche Bewusstsein digitalisiert und auf einer Pflanze gespeichert werden kann. Klug, spannend und unterhaltsam, das ist der Tenor der Kritik über dieses gelungene Debüt. Zara Zerbe erhält für »Phytopia Plus« im September den Phantastikpreis der Stadt Wetzlar.
Frank Schulz, »Amor gegen Goliath«, Hamburger Kunsthalle, 19.30 Uhr
Für alle, die seine Literatur kennen, ist das, was die Verlagsvorschau ankündigt, ein so vielversprechender wie erwartbarer Mix: »Höhen deutscher Sprachartistik« und die »Hölle einer Angststörung«. Das kennt man so ähnlich schon aus der grandiosen Romantrilogie um den Hartz-IV-Empfänger Onno Viets. Neu ist, dass Frank Schulz (Hamburger Kunsthalle, 19.30 Uhr) mit seinem Roman »Amor gegen Goliath« (Galiani) »ins Herz der Klimabewegung« führt. Die humoristische-realistische Prosa des vielfach ausgezeichneten Schriftstellers, der zuletzt 2018 den grandiosen Erzählband »Anmut und Feigheit« vorlegte, gehört zum Feinsten, was in der deutschen Literatur unterwegs ist. Das klingt schon im ersten Absatz des neuen Romans an, in dem wir »zwei Schattengestalten die Zementtreppe zum Strand hinab« begleiten. »Tastend folgen sie den tanzenden Kugelblitzen ihrer Handys. Auf den Stufen schmirgeln ihre Sohlen, und aus dem dunklen Tamariskenstrauch zirpt eine einzelne Zikade – apathisch fast, als pfiffe aus dem letzten Loch der große Pan«. So klingen große Liebesgeschichten in Zeiten des Klimawandels.
Nora Bossong, »Reichskanzlerplatz«, Buchhandlung Felix Jud, 19.00 Uhr
In einer Legende, die in kleinen Variationen seit dem 11. Jahrhundert in Mitteleuropa erzählt wird, begegnen drei hochmütige Edelleute drei schaurigen Skeletten, die sie an die Endlichkeit all ihrer irdischen Umtriebe erinnern und zu Demut und Bescheidenheit auffordern. »Was ihr seid, das waren wir. Was wir sind, das werdet ihr«, rufen sie ihnen zu. Nora Bossong (Buchhandlung Felix Jud, 19.00 Uhr) hat dieses »Memento mori« ihrem neuen Roman »Reichskanzlerplatz« (Suhrkamp) vorangestellt, und es ist mehr als nur das einleitende Zitat zu einem Roman, der ein berückendes Geschichtsbild aus einer Zeit entwirft, die noch nicht so lange zurückliegt, man kann es auch als eine böse Prophezeiung und eine Warnung an die Gegenwart lesen, die diesen Roman begleitet. Im Zentrum stehen der homosexuelle Beamte Hans, aus dessen Perspektive sich die Geschichte entfaltet, und Magda Goebbels, die in den 1930er Jahren zur First Lady des Berliner Politikbetriebes aufsteigt. Sie bringt sieben Kinder zur Welt und wird als Vorzeigemutter ihrer Zeit stilisiert. Die Vornamen ihrer Kinder beginnen alle mit einem H, einem H wie Hitler. Zwei Menschen in der Maschinerie historischer Ereignisse, unterschiedlich verstrickt in ein tiefes Lügengespinst, in dem das ganze Land gefangen ist, unterschiedlich schuldig geworden und das auch an sich selbst, an ihren Aufgaben und Möglichkeiten.
Jan Wagner, »Steine & Erden«, Freie Akademie der Künste, 19.00 Uhr
Es ist ganz naheliegend von der Buchhandlung Felix Jud aus, wo Nora Bossong diesen großartigen Roman um 19.00 Uhr vorstellen wird, gleich zu einem Spaziergang zur Hamburger Kunsthalle aufzubrechen, wo um 21.30 Uhr im Café Liebermann von der Kulturbehörde der Hamburger Buchhandlungspreis vergeben und im Anschluss der Ausklang dieser Langen Nacht gefeiert wird. Doch für einen ganz kurzen Hinweis auf Jan Wagner (Freie Akademie, 19.00 Uhr) soll hier noch Platz sein. Der Büchnerpreisträger ist mit seinem neuen Gedichtband auf der Spur von »Steinen & Erden« und öffnet damit einen ganzen Naturkosmos, in dem »noch das Geringste Gedicht werden kann« - von der Karottenrakte auf ihrem Weg zum Erdmittelpunkt über die schleichend wachsende Gummiakropolis bis zu unentrinnbar weichen Pfoten.
Alle Veranstaltungen zur Langen Nacht der Literatur:
www.langenachtderliteratur.de
Hamburger LeseFrühstück
»Abschied von Shanghai? Maskee!«
Die Journalistin, Dramaturgin und Autorin Hilke Veth liest aus ihrem Roman über die Geschichte der »Chinadeutschen« aus der Perspektive einer Familie. Sie erzählt von Kaufleuten, Missionaren und kleinen Angestellten in den Handelsmetropolen entlang der chinesischen Ostküste vor dem Hintergrund von politischen Machtkämpfen, Kriegen und den gesellschaftlichen Umbrüchen in China und Deutschland in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Mit dem Ende der Kolonialzeit und der Repatriierung nach Deutschland beginnt ein neues Kapitel für die Familie, fernab von China. Ein Abschied für immer?Hamburger LeseFrühstück des Literaturzentrums im Hotel Wedina, Gurlittstr. 23, 12.00 Uhr, Buffet ab 11.00 Uhr, € 25,– inkl. Frühstück, Anmeldungen: lit@lit-hamburg.de
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