Abbas Khiders neuer Roman »Der Erinnerungsfälscher«

Erinnerungen wie Minenfelder

Abbas Khider
Abbas Khider, Foto: Peter-Andreas Hassiepen
Herkunft und Identität sind die zentralen Themen der Literatur von Abbas Khider. In seinem neuen Roman »Der Erinnerungsfälscher« erzählt er von einer Reise, die seinen Protagonisten unvermittelt aus dem Alltag in Deutschland und nach Bagdad katapultiert. Unterwegs ist er mit der Brüchigkeit seiner Erinnerungen konfrontiert. Und wirft ganz beiläufig Fragen des Schreibens und der Literatur auf. Was ist Fiktion, was Wahrheit? Gibt es eine richtige Erinnerung und vielleicht auch eine falsche? Oder können verschiedene Erinnerungen an dasselbe Ereignis gleichzeitig richtig sein?

Er wollte schon seit seiner Jugend Schriftsteller werden, und er hat es hingekriegt, obwohl es lange nur ein Traum bleiben musste, wie Abbas Khider in seinem zuletzt erschienenen Buch »Deutsch für alle« schreibt, einem »endgültigen Lehrbuch« und herrlichen Vademecum für alle, die besserwisserisch glauben, die deutsche Sprache schon irgendwie zu kennen. Bekannt wurde Khider vor allem mit seinen Romanen, darunter der hochgelobte Flüchtlingsroman »Die Ohrfeige« (2017), und er wurde mit einer ganzen Reihe von Preisen und Stipendien ausgezeichnet. Nach Deutschland kam der 1973 in Bagdad geborene Schriftsteller im Jahr 2000, er erhielt politisches Asyl und studierte in München und Potsdam Literatur und Philosophie. In der deutschen Sprache hat er eine neue Heimat gefunden. Er gilt inzwischen als einer der wichtigsten deutschsprachigen Gegenwartsschriftsteller und wurde auch für »Der Erinnerungsfälscher« einhellig in der Literaturkritik gefeiert.

Erzählt wird die Geschichte von Said Al-Wahid, der unterwegs von einem Podiumsgespräch in Mainz, zu dem der junge Schriftsteller eingeladen war, zurück zu seiner Frau Monica und seinem Sohn Ilias in Berlin ist, als ihn ein Anruf seines Bruders aus Bagdad erreicht. Seine Mutter liegt im Sterben, und Said entschließt sich, direkt nach Bagdad weiter zu reisen, zum ersten Mal seit vielen Jahren. Als Binnenerzählung sind in diese Reise die Stationen von Saids Flucht, von seinem Ankommen und Leben in Deutschland eingeflochten – und eine große Unsicherheit, die über allem schwebt. Said hat weite Bereiche seiner Erinnerungen verloren: »Mehrere Jahre, von seiner Kindheit über die Jugend bis zur Gegenwart, waren verschwunden.« Der Grund für diese Lücken findet sich zwar relativ schnell in traumatischen Erfahrungen, aber was ist soll Said mit der Diagnose anfangen? Als ihm ein Arzt empfiehlt, eine Traumatherapie zu machen, die vermutlich viele Jahre dauern würde, sagt sich Said: »Es gibt Orte im Gedächtnis, die sind wie Minenfelder, sie können einen in Stücke reißen. Ein Leben kann schön und erträglich sein – wenn man diese Orte meidet.« Genau das macht er und findet schließlich eine »heilende Leichtigkeit« darin, die fehlenden Erinnerungen einfach zu erfinden. Seitdem geht es auch mit seinem Schreiben ganz wunderbar voran.

Abbas Khider erzählt sehr unprätentiös und doch mit einer leisen Poesie, mit feinem Wortwitz und immer wieder großem Humor davon, wie es ist, in einem fremden und fernen Land anzukommen, in dem wesentliche Stationen der eigenen Geschichte und auch die Gegenwart in zwei Kulturen nicht so einfach geteilt werden können, auch nicht mit der eigenen Frau. Die Literatur kann daran nicht viel ändern, und doch schlägt »Der Erinnerungsfälscher« mit großer Erzählkraft eine Brücke zwischen den Welten, indem er die Vorstellungskraft schärft.

Abbas Khider, »Der Erinnerungsfälscher«, Hanser, € 19,–


29.04.2022 | Jürgen Abel