Abdulrazak Gurnahs neuer Roman »Nachleben«

Macht und Last der Erinnerung

 Abdulrazak Gurnah
Abdulrazak Gurnah, Foto: Amrei Marie, Wikipedia
In seinem Roman »Nachleben« (Penguin) verknüpft der im vergangenen Jahr mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnete Schriftsteller Abdulrazak Gurnah ein ergreifendes Familienepos mit der Kolonialgeschichte Deutschlands. Der Erinnerung stiftender Roman stellt die Ereignisse einer ganzen Epoche aus einer Perspektive dar, in der sie bisher kaum sichtbar wurde. Die Romanhandlung spielt über weite Strecken in der Swahiligesellschaft der Küstenregion des heutigen Tansania – und endet aus gutem Grund in Hamburg.

Eines der aktuell für den Buchpreis »HamburgLesen« nominierten Bücher ist der von Jürgen Zimmerer und Kim Todzi herausgegebene Sammelband »Hamburg: Tor zur kolonialen Welt. Erinnerungsorte der (post-)kolonialen Globalisierung« (Wallstein). Auf dem Cover sind zwei Hamburger Denkmäler abgebildet, das Bismarck-Denkmal und eines der »Askari Reliefs«, das aus der Zeit des Nationalsozialismus stammt. Es zeigt vier afrikanische Askari, so wurden die Soldaten der sogenannten »Schutztruppe« genannt, und ihren deutschen Anführer in heroischer Pose. Jahrelang wurde darüber gestritten, was damit passieren soll, öffentlich zugänglich sind die Reliefs bis heute nicht. Doch das Thema ist damit natürlich nicht vom Tisch, es wird auch in Zukunft noch viel Anlass für Debatten geben und darum gerungen werden müssen, wie Hamburg – die zentrale Kolonialmetropole in Deutschland – mit diesem Erbe umgeht. Einen wesentlichen Schritt zur Aufarbeitung hat der Hamburger Senat 2014 getan und eine Forschungsstelle an der Universität eingerichtet, von der die »Dynamiken, Repräsentationen, Nachwirkungen und Kontroversen des (deutschen) Kolonialismus« seitdem untersucht werden.

In der deutschen Literatur wurde der Kolonialismus lange als Heroisierung von Eroberungsfeldzügen im wilden Afrika beschworen. Deutscher Heldenmut beschert rückständiger, einheimischer Bevölkerung die Zivilisation und eine höhere Kultur, soweit der bis heute verbreitete Größenwahn und Irrglaube. Abdulrazak Gurnah sieht den späten deutschen Kolonialismus vor allem als militärische Operation, wie er in einem Interview erklärte. Wer sich nicht fügte, wurde misshandelt oder ermordet. Man muss nicht lange suchen, um diese These bestätigt zu finden, die Ereignisse sprechen für sich: Der erste Völkermord des 20. Jahrhunderts wurde von Deutschen an den Herero und Nama verübt, und auch der Maji-Maji-Krieg gehört zu höchst gewaltsamen Kapiteln der deutscher Kolonialherrschaft.

Obwohl diese Ereignisse und auch die bekannten Akteure in Abdulrazak Gurnahs Roman eingeflossen sind, erzählt »Nachleben« vor allem eine Familien- und Liebesgeschichte. Sie setzt Ende des 19. Jahrhunderts mit Khalifa ein, dem Sohn einer Afrikanerin und eines indischen Muslims. Auf wenigen Seiten wird die Karriere Khalifas in einer Handelsstadt und der Horizont seiner Welt aufgefächert. Da ist die kosmopolitische Handelsgesellschaft, von der die Küste Ostafrikas geprägt ist und gleichzeitig der Herrschaftsanspruch der Kolonialmächte, aus dem Feldzüge und Verwerfungen der Wirtschaft resultieren. Unweigerlich trägt sich das in alle Lebensgeschichten ein. Dennoch führt Khalifa, der 1907 heiratet, ein unbeschadetes Leben, sogar noch als der Erste Weltkrieg den Handel unmöglich macht. Ganz anders ist das bei seinem Freund Ilyas. Er gerät als Kind in die Hände der Kolonialtruppen, besucht eine deutsche Missionsschule und rettet später seine Schwester Afiya aus Verhältnissen, in denen sie wie eine Sklavin gehalten wird. Afiya wächst schließlich bei Khalifa auf, während Ilya sich den »Schutztruppen« anschließt, um als Askari für die Deutschen zu kämpfen. In das Innenleben der »Schutztruppen« führt der Roman mit Hamza. Er schließt sich als Jugendlicher den Askari an und steigt zum Diener eines Offiziers auf, der ihn zum Versuchsobjekt kolonialer Überformung macht. Nach einem langen Leidensweg landet er im Haushalt von Khalifa, erlebt dort eine wundervolle Liebe und wird Vater eines Sohnes. Mit diesem schönen Happy End könnte die Geschichte einer Familie am Rande kolonialer Verwüstungen auserzählt sein, nur, ganz so einfach ist es nicht.

Bis zum kurzen Finale begleitet das Schicksal Ilyas die Familie als schmerzhafte Leerstelle durch die Jahrzehnte und bildet so den eigentlichen Motor des Romans. In den frühen 1960er Jahren kommt dann Hamzas Sohn nach Deutschland und erfährt von einem Sänger, der im Nationalsozialismus in »zwielichten Hamburger Varietés auftrat« und später im KZ Sachsenhausen ermordet wurde. Es ist die Geschichte Ilyas. Im Gegensatz zu allen anderen Figuren des Romans gibt es für ihn ein reales Vorbild in dem Askari und Schauspieler Bayume Mohamed Husen. Er kam 1929 nach Deutschland und spielte seine größte Rolle in dem NS-Propagandafilm »Carl Peters« an der Seite des deutschen Schauspiel-Idols Hans Albers. Der Rassist und Kolonialist Carl Peters war wegen seiner Brutalität als »Hänge-Peters« verschrien, unter Afrikanern hatte er den Spitznamen »mkono wa damu«: »blutige Hand«. Damit ist das Erinnerungskonstrukt dieses Romans vollständig und die Handlung bricht relativ unvermittelt ab.

Abdulrazak Gurnah schenkt mit »Nachleben« nicht nur den von der deutschen Kolonialherrschaft betroffenen Völkern eine Erinnerung, sein sehr lesenswerter Roman ist auch eine Aufforderung dazu, sich in Deutschland davon zu erzählen und ins Gespräch zu kommen.

Abdulrazak Gurnah stellt »Nachleben« am 17. Oktober im Thalia Gaußstraße vor. Ein Gespräch mit dem Autor führt Kultursenator Carsten Brosda.

Abdulrazak Gurnah, »Nachleben«, Penguin, € 26,–


01.10.2022 | Jürgen Abel