Video, Podcast, Online-Lesung

»Alles digital, oder was?«

Leona Stahlmann
Leona Stahlmann, Foto: Simone Hawlisch
Nahezu alle Kulturinstitutionen in Hamburg haben in den vergangenen Monaten digitale Projekte ins Leben gerufen. Viele sind nicht mehr als ein Notbehelf, manche stehen aber auch für sich und zeigen, wie wichtig kulturelle Erlebnisräume und ihre einzigartige Perspektive auf wichtige Themen und Fragestellungen sind. Kultur hat Wirkungsmacht, und auch wenn sie nicht so direkt einlösbar ist, wie bei Erkenntnissen der Natur- oder Sozialwissenschaften, bleibt ein Fanal, dass sie ausgerechnet in der schlimmsten Krise seit Jahrzehnten ihre Bühnen verloren hat. Um all dem, was in den vergangenen Monaten untergegangen ist, Gehör zu verschaffen, hat sich das Netzwerk der Literaturhäuser zu der Kampagne »Zweiterfrühling« zusammengeschlossen. Gleichzeitig startet das Literaturhaus Hamburg das neue Digitalprojekt »Zugabe«. Zu Gast ist Leona Stahlmann. Doch auch sonst hat der Spielort Internet viel Neues für diesen Sommer im Programm.

Opernhäuser, Theater und Museen sollten digitale Formate in Zukunft als Orte eigener ästhetischer Erfahrungen kuratieren, das Internet also nicht nur als Medium für das Marketing von Live-Events nutzen. Dafür plädiert der Musikjournalist und Literaturkritiker Holger Noltze in seinem im Mai in der Edition Körber neu erschienenen Buch »World Wide Wunderkammer. Ästhetische Erfahrung in der digitalen Revolution«. In einem Körber-Kurzpodcast spricht Diana Huth mit ihm über Kunst und Kultur im Internet, das unversehens zum einzigen Spielort geworden ist und einen unglaublichen Schub erhalten hat. koerber-stiftung.de/mediathek

Nahezu jede Kulturinstitution von der Elbphilharmonie über die Theater, die Museen bis zu den Stadtteilkulturzentren hat innerhalb weniger Wochen ein digitales Programm entwickelt. Herausragend ist in Hamburg »Thalia Digital«. Unter dem Label »The rest is missing« wird in täglichem Wechsel online ein Stück gezeigt. Das Theater hat zudem gleich mehrere Lesereihen ins Programm gehievt, darunter »Einzelversammlung. Max Frisch aus dem Homeoffice« als Videoformat oder das europäische Hörspielprojekt »#Décaméron-19« nach »Il Decamerone« von Giovanni Boccaccio als reines Audio-Format. Das von dem französischen Regisseur Sylvain Creuzevault initiierte Projekt bringt Künstlerinnen und Künstler zu einer gemeinsamen Erzählung zusammen: Wo auch immer sie sich befinden, sind sie gebeten, eine der 100 Geschichten aus »Il Decamerone« in ihrer Muttersprache aufzunehmen. Alle Beiträge können auf Deutsch nachgelesen werden. thalia-theater.de/thaliadigital

Schnell auf die Pandemie reagiert hat auch das Literaturhaus Hamburg: Unermüdlich treten Annemarie Stoltenberg und Rainer Moritz als »Gemischtes Doppel – mit Abstand« auf und empfehlen dreimal pro Woche so kompetent wie kurzweilig Neuerscheinungen im Videoformat. Ein ganz neues digitales Format startet das Literaturhaus unter dem Label »Zugabe« im Juni. Leona Stahlmann trifft sich per Zoom mit ihrem Publikum zum Gespräch über ihren Debütroman »Der Defekt«. literaturhaus-hamburg.de

Die sommerliche Lesebühne des Hamburger Literaturjahrbuchs »ZIEGEL« in der HafenCity wird digital realisiert: Neun Autor*innen lesen an ihren Lieblingsorten in der HafenCity. Die Videos der Lesungen werden ab etwa Mitte Juni immer sonntags veröffentlicht. Ebenfalls im Videoformat wird das »ZIEGEL«-Speed-Dating gezeigt, das für die »literatur-altonale« geplant war. Die »altonale« entwickelt auch sonst ein umfangreiches Alternativ-Programm zu den Live-Events. altonale.de/altonale/altonaledigital

Die Reihe der Veranstaltungen und Akteure, die digital aktiv sind, könnte man noch lange fortsetzen: Als Podcast gibt es die Lesebühne »Bei Hilde – Brot & Geschichten« unter dem Label »Hörhilde«. ¨ brakula.de Das Altonaer Museum lädt online zu einem Spiel aus der Ausstellung »Lass leuchten!«, bei dem man Peter Rühmkorfs Reimwörter erraten darf. Da reimt sich auf »Treber« dann »Tortenheber«, auf »Apache« das »Wehmutsgequatsche« und auf »Agnes«, man ahnt es schon: »Gebacknes«. ¨ lassleuchten.gemelo.de Schlimmer kommt es nur noch im YouTube-Kanal von alias Lars Henken: Der Hamburger Autor lässt seiner Leidenschaft für »Schüttelschnack« freien Lauf und fragt unter dem Titel »Vogelhintern«: »Da sitzen auf der Heizung Raben / ob die am Po ’ne Reizung haben?«. YouTube/Lars Exit

Schlussendlich, und so groß der Wunsch ist, wieder unbeschwert ins Theater, ins Kino, zu Konzerten und Lesungen gehen zu können, muss man nach all den Wochen zu Hause aber sagen, dass die digitalen Angebote natürlich eine Bereicherung sind. War es nicht unvorstellbar, das gesamte öffentliche Leben könnte jemals einfach stillgelegt werden? Schon jetzt ist es nicht weniger unvorstellbar, die erhöhte digitale Präsenz könne nicht fortbestehen, nur weil irgendwer sagt, der Laden dürfe wieder hochgefahren werden. Das berühmte »Zurück auf Los« gibt es halt nur im Spiel, für das wirkliche Leben gilt eher das ermunternde: »Weitermachen«.



11.06.2020 | Jürgen Abel