Andreas Reckwitz´ »Verlust - Ein Grundproblem der Moderne«
Auf der Schattenseite des Fortschritts
Andreas Reckwitz, Foto: Jürgen Bauer
Verlusterfahrungen und Verlustängste sind heute weit verbreitet und setzen oft sogar den Ton unserer Zeit, das ist fast schon ein Allgemeinplatz, wie nur ein kleiner Einblick in die Verlustbilanz der Gegenwart zeigt: Sie verzeichnet die Folgen des Klimawandels und des Artensterbens ebenso wie die analogen Medien, den Verbrennungsmotor, das generische Maskulinum und einen älteren Herrn wie den Entertainer Thomas Gottschalk, der sich »ungefiltert« an die gute alte Zeit erinnert, in der er frank und frei sagen durfte, was immer er wollte.
Diese Aufzählung ließe sich fast beliebig durch weitere »Befunde aus der Gegenwartsgesellschaft« ergänzen, um zu erhärten, wie umfangreich das Verzeichnis der Verluste heute ist und wie naheliegend die Ausgangsthese von Andreas Reckwitz: »Verluste sind im Zentrum der Spätmoderne angekommen«. Aber wie ist das zu erklären? Warum haben sehr verschiedene Verlusterfahrungen heute so große Relevanz? Und was bedeutet das für unsere Zukunft? Andreas Reckwitz will mit seinem Buch »keiner haltlosen Dramatisierung Vorschub leisten«, sondern erinnert in seiner »Soziologie der Verluste« zuerst einmal an einen Mythos, der die modernen Gesellschaften seit zweihundert Jahren umtreibt. In dessen Zentrum steht die Erwartung, dass sich alles immer zum Besseren verändern müsse. Im Widerspruch dazu stehen Verlusterfahrungen, die einerseits durch Technik oder Medizin erfolgreich gezähmt, aber gleichzeitig auch potenziert werden, denn zum Fortschrittsnarrativ gehört auch, dass immerfort Neues hervorgebracht werden muss, das gleichzeitig Altes entwertet.
Für Andreas Reckwitz ist es eine der existenziellen Fragen des 21. Jahrhunderts, ob sich dieses Paradox auflösen lässt. Können Gesellschaften modern bleiben und sich zugleich produktiv mit Verlusten auseinandersetzen? Mit seinem Buch liefert der Soziologe eine Grundlage für den Diskurs, und er stellt auch gleich »wichtige Reparaturaufgaben der kommenden Moderne« vor. Ob sich daraus mehr ergeben wird als die Erkenntnis, dass der gesellschaftliche Fortschritt in den westlichen Gesellschaften ins Stocken geraten ist, werden die kommenden Jahre zeigen. An Verbesserungen, das lehrt diese Lektüre, muss man, um sie möglich zu machen, nicht nur vage interessiert sein, sondern vor allem auch an sie glauben.
Andreas Reckwitz, »Verlust - Ein Grundproblem der Moderne«, Suhrkamp, € 32,–
01.12.2024 | Jürgen Abel