Anja Marschals historischer Roman »Als der Sturm kam«
»Als der Sturm kam«
Anja Marschall, Foto: Frauke Ibs
Im Polizeihaus am Karl-Muck-Platz geht es zackig zur Sache, nachdem der Polizeisenator eingetroffen ist. »Kommen Sie zum Punkt«, mahnt der Herr Senator, der erst seit 65 Tagen im Amt ist und seine Befehle an die Einsatzkräfte grundsätzlich nur einmal gibt. Die Hauptrolle in Anja Marschalls Roman spielt allerdings nicht der spätere Bundeskanzler Helmut Schmidt als Koordinator der Rettungsaktionen, sondern eine junge Frau aus Wilhelmsburg. Marion Klinger wohnt mit ihrer gehbehinderten Mutter in der Laubenkolonie »Alte Landgrenze« auf der größten Binneninsel Europas, auf der Tausende von Kriegsflüchtlingen und Ausgebombten damals noch in Behelfsheimen leben.
Am Abend der Sturmflut lässt die junge Fremdsprachensekretärin ihre Mutter in Wilhelmsburg zurück und eilt ins Polizeihaus, wo sie als Schreibkraft angestellt ist. Dort steht sie als Sekretärin bald schon im Zentrum des Krisenstabs und erfährt vom ganzen Ausmaß der Katastrophe, die Anfangs und nach all den Jahren, in denen Sturmfluten keine große Gefahr waren, niemand überblickt und besonders ernst nimmt. Gleichzeitig kämpfen ihre Mutter, ihre Nachbarn und ihre Freundin Karin mit ihren kleinen Kindern in Wilhelmsburg um ihr Leben, und der Hubschrauberpilot Georg startet zu lebensgefährlichen Einsätzen ins Überflutungsgebiet. Auch für ihn gibt es ein historisches Vorbild, so wie für viele andere Figuren des Romans.
Anja Marschall gibt am Ende Hinweise darauf, was Fakten, reale Hintergründe und Fiktion sind und hat zudem eine Chronologie angefügt. Die Romanhandlung findet am 26. Februar 1962 auf dem Rathausmarkt in der Verknüpfung von Fakten und Fiktion ein versöhnliches Ende: 150.000 Trauernde kommen dort zum Gedenken für die Opfer der Flutkatastrophe zusammen, und im Roman deutet sich dort ganz beiläufig der Beginn einer Liebesgeschichte an. Das Leben geht weiter.
Anja Marschall, »Als der Sturm kam« (Piper), € 16,–
01.02.2024 | Jürgen Abel