Anselm Nefts neuer Roman »Späte Kinder«

Denken, träumen, hoffen, fürchten

Anselm Neft
Anselm Neft © Jürgen Abel
Die Versuchsanordnung ist so radikal wie alltäglich: Eine Frau erfährt, dass sie nur noch wenige Monate leben wird. Was ist jetzt zu tun? Was lässt sich noch besser, was anders machen? Und was ist, trotz aller Verzweiflung, bei noch klarem Verstand vorzubereiten? Das sind die Ausgangsfragen von Anselm Nefts neuem Roman »Späte Kinder« (Rowohlt). Er führt in eine dramatische Ausnahmesituation und zudem mitten hinein in die tiefen Abgründe einer Familiengeschichte. Dennoch ist dies ein versöhnlicher Roman mit einem bewegenden Happy End.

Schon für seinen zuletzt erschienenen Roman »Die bessere Geschichte« hat Anselm Neft sich auf schwieriges Gelände vorgewagt, der Internatsroman thematisiert die Missbrauchsfälle an deutschen Schulen und wurde unisono in der Kritik dafür gefeiert, »ohne Zeigefinger und Moralisierungen« eine bewegende Geschichte zu erzählen, die »uns alle angeht« (Deutschlandfunk). Auf andere Weise trifft das auch auf »Späte Kinder« zu, auch hier sind Verdrängung, Tabuisierung und ihre Überwindung zentrale Motive: Für Sophia liegt die Nachricht, dass sie nur noch wenige Monate leben wird, gerade einmal sechzehn Tage zurück. Die Diagnose erlaubt keine Ausflucht, statt vieler Jahrzehnte wird der Tod sie mitten aus dem Leben reißen. »Leugnen, Wut, Verhandeln, Depression, Akzeptanz«, das ist das Programm, das ihr bevorsteht, es sind »die Phasen, die ein Todkranker durchlebt«.

In der Phase des Leugnens erwacht Sophia eines Morgens neben ihrem Mann Marcel. Die neunjährige Tochter Julika ist bei den Schwiegereltern, und das Eheleben erschöpft sich im alltäglichen Vollzug, bevor sie sich aus Hamburg auf den Weg nach Bonn macht, um mit ihrem Zwillingsbruder Thomas den Haushalt ihrer Mutter aufzulösen, die gerade gestorben ist. Noch weiß niemand in der Familie von ihrer Erkrankung, mit Thomas will sie zuerst darüber reden und ihn in ihre Pläne für Julika einweihen, die sie bei Marcel, einem vielbeschäftigten Kunsthändler, nach ihrem Tod nicht gut versorgt sieht. Doch dann kommt alles anders. Im verwaisten Elternhaus sind die Geschwister, die sich sehr nahe stehen, plötzlich mit den Erinnerungen an ihre Kindheit und Jugend konfrontiert und mit der Frage: »Du führst doch in etwa das Leben, das du dir wünschst, oder?«Darauf gäbe es für niemanden eine einfache Antwort, obwohl sie bei der promovierten Kunstwissenschaftlerin Sophia sehr nahe liegt. Sie führt ein gutes Leben in einem Eigenheim im vornehmen Hamburger Viertel Harvestehude, während ihr Bruder Thomas als Journalist in der Rolle des kritischen Intellektuellen in Berlin aufgeht. Im Hintergrund dieser erfüllten Lebensläufe lauern jedoch Verletzungen in der Kindheit, die sie beide bis in die Gegenwart verfolgen und die Befürchtung, stets nur einem fremden Muster gefolgt zu sein, das ihnen von den Eltern aufgezwungen wurde und durch die familiäre Konstellation, in der sie groß wurden. »Ich will so nicht sterben«, stellt Sophia fest, und begibt sich mit Thomas in den folgenden Wochen und Monaten in eine radikale Klausur. Als »Späte Kinder« konfrontieren sie sich in einem »Stellvertreterspiel« mit der Geschichte ihrer Familie – und finden so nach und nach einen Weg, ihren Wünschen und Hoffnungen den Raum zu geben, den es braucht, damit sich ein Leben erfüllen kann.

Es ist eine tieftraurige Geschichte, die Anselm Neft erzählt, die aber auch viel Mut macht. Trotz aller Tragik, die diesem Roman innewohnt, ist er mit einer feinen Ironie gespickt und unterhält glänzend. Wenn Sophia, »gelbstichig, die Haare millimeterkurz«, die Hamburger Kunstszene bei einer Vernissage mit ihrer Offenheit konfrontiert, wenn sich Thomas auf Mallorca mit rasenden Rennradfahrern anlegt oder die Schwiegermutter beim Abschiedsessen für Sophia »eingeschnappt« das Lokal verlässt, weil ihr Sohn sie dazu auffordert, endlich mal die Klappe zu halten, dann zeigt sich dieser Roman von einer ganz und gar lebensfrohen Seite.

➝ Die Buchpremiere mit Anselm Neft findet am 3. Februar statt. Literaturhaus, Schwanenwik 38, 19.30 Uhr, € 12,–/8,–, Streamingticket € 5,–, literaturhaus-hamburg.de

Anselm Neft, »Späte Kinder«, Rowohlt, € 22,–


02.02.2022 | Jürgen Abel