Antje Rávik Strubels Roman »Blaue Frau«

Gespenster ans Licht holen

Anselm Neft
Antje Rávik Strubel © Philipp von der Heydt
Schon in ihrem 2001 erschienen Roman »Unter Schnee« erzählt Antje Rávik Strubel von Adina, die in einem Dorf im tschechischen Riesengebirge als einziges Kind aufwächst. In ihren ersten Erinnerungen sieht sie sich alleine im Schnee spielend, schon früh sehnt sie sich in die Ferne. Dort ist sie in »Blaue Frau« nun angekommen, als zentrale Figur eines opulenten Ost-West- und Europaromans, der in wechselnden Perspektiven die Geschichte eines Missbrauches erzählt. Antje Rávik Strubel wurde für den mit großer »existenzieller Wucht und poetischer Präzision« (Jurybegründung) erzählten Roman mit Deutschen Buchpreis 2021 ausgezeichnet. Bei Boysen + Mauke stellt sie den Roman vor.

Es ist gar nicht so leicht, sich in diesem Roman zurechtzufinden, denn Antje Rávik Strubel erzählt ihre Geschichte einer weiblichen Selbstermächtigung nicht linear, sondern in verschiedenen Handlungssträngen, in die sich Erinnerungssplitter und Vorausahnungen allmählich zu einem Gesamtbild fügen. Im ersten Teil begegnen wir Adina, die sich auch Nina und Sala nennt, am Stadtrand von Helsinki. Sie lebt in einem Plattenbau, fantasiert über einen imaginären Prozess, in dem Männer in Handschellen in einem Gerichtssaal sitzen, und sie erinnert sich an ihre Kindheit und Jugend. Aufgewachsen ist sie in einem Doppelhaus am Rande von Harrachov, einem Ort im Norden Tschechiens, nahe der Grenze zu Polen im Riesengebirge und direkt am Skigebiet Certova Hora. Nachts zeichnet sich vor ihrem Dachfenster der Gipfel des schneebedeckten Teufelsberges ab. Sie ist »der letzte Teenager von Harrachov« und findet ihre einzigen Freunde im Internet. In einem imaginären »Rio« chattet sie abends als »der letzte Mohikaner« mit »Galadriel, ZP oder Darth Vader«.

Unterbrochen wird dieser Erzählstrang von Leonides, einem estnischen EU-Abgeordneten und Universitätsprofessor, den Adina liebt. »Träumst du wieder, Sala?«, fragt er sie, bevor die »blaue Frau« zum ersten Mal auftaucht. Mit ihr ist eine weitere Ich-Figur des Romans im Gespräch, eine Schriftstellerin, die in Helsinki recherchiert. In den Begegnungen mit der geheimnisvollen Frau muss »die Erzählung innehalten«, wie es gleich in der ersten Episode mit ihr heißt. Das geschieht anfänglich oft nur für einen Absatz, eine Selbstvergewisserung, eine Reflektion über das Erzählen, bis die Instanzen am Ende verschwimmen, ohne sich wirklich aufzulösen: Ist vielleicht Adina selbst »die blaue Frau« oder ist sie doch nur eine imaginierte Person?

Im zweiten Teil des Romans ist Adina 20 Jahre alt und hat ihr Dorf im Riesengebirge verlassen. In Berlin lernt sie die Fotografin Rickie kennen, die ihr ein Praktikum in der Uckermark vermittelt. Auf einem verfallenen Landgut will dort der ehemalige NVA-Offizier Razlav Stein eine Kulturinstitution gründen und schaltet dafür einen »Multiplikator« ein: Johann Manfred Bengel. Auf Adina wirkt er wie ein »uralter Mann in Turnschuhen«, und obwohl sie die Gefahr erkennt, wird sie von den beiden alten Männern in eine Falle gelockt. In Helsinki sucht sie nun nach einem Ausweg aus dem inneren Exil. Kann sie die Gespenster, die sie verfolgen gemeinsam mit Leonides oder mit Hilfe der Aktivistin Kristiina ans Licht holen?

Vor allem im Schlussteil des Romans rückt Antje Rávik Strubel die individuelle Leidensgeschichte in einen größeren Fokus und weitet schließlich den Blick für eine Reflexion über die Erinnerungskulturen in Ost- und Westeuropa. Die Jury zum Deutschen Buchpreis schwärmte von einer »Literatur als fragile Gegenmacht, die sich Unrecht und Gewalt aller Verzweiflung zum Trotz entgegenstellt«.

Antje Rávik Strubel , »Blaue Frau«, S. Fischer, € 24,–


06.02.2022 | Jürgen Abel