Barbara Kingsolvers Roman »David Copperhead«

Der Dämon der Appalchen

Barbara Kingsolver
Barbara Kingsover, Foto: Evan Kafka
Von den Demütigungen und Ängsten eines verwaisten Jungen im London des 19. Jahrhunderts erzählt Charles Dickens in »David Copperfield«. Es ist einer der bedeutendsten Kindheits- und Jugendromane der Weltliteratur und als Stoff heute wieder brandaktuell, wie der neue Roman »Demon Copperhead« (DTV) der US-amerikanischen Schriftstellerin Barbara Kingsolver zeigt. Sie hat den autobiografischen Bildungsroman, der zur Zeit der ersten industriellen Revolution spielt, in die Gegenwart geholt und in ihre Heimat, die Appalachen verlegt. In diesem Frühjahr ist die grandiose, u.a. mit dem Pulitzer Preis ausgezeichnete, Neuerzählung in einer deutschen Übersetzung von Dirk van Gunsteren erschienen.

Wer sich in diesem Roman auf die Suche nach »David Copperfield« begibt, wird reich belohnt, das beginnt schon mit der Geburt des Lesunghelden, die in beiden Romanen am Anfang und unter keinem guten Stern steht. Doch auch sonst gibt es viele Parallelen, von denen sicher die wichtigste ist, »dass sich, was Armut und Kinder angeht, in hundertsiebzig Jahren leider nicht viel verändert hat«, wie Barbara Kingsolver in einer kurzen Vorbemerkung für ihre deutschen Leser:innen anmerkt. Spielort ihres Romans ist Lee County in Virginia, einer der ärmsten Landkreise in den USA, er liegt in den Appalachen, einem Gebirgszug, dessen südlicher Teil schon seit dem späten 19. Jahrhundert als Appalachia bezeichnet wird und eine eigene kulturelle Identität ausgebildet hat. Es ist die Heimat der »Mountain People«, der »Hillbillys«, der Landeier und dieses »Leckt-mich-doch-am-Arsch-Stolzes«, der sich gerade dazu aufschwingt, Donald Trump eine zweite Präsidentschaft zu bescheren.

Barbara Kingsolver ist in Appalachia aufgewachsen, sie bezeichnet sich selbst als eine »appalachische Schriftstellerin«, die sich mit ihrem Roman vorgenommen hat, den »ganzen Hintergrund« zu zeigen, »all die Dinge, auf die die Leute herabblicken, die wir aber nicht verschuldet haben, sondern die uns angetan wurden, aber auch die guten Seiten, unseren Gemeinsinn, und dass wir wahrscheinlich die findigsten Köpfe der USA sind«.

Zum Hintergrund gehört vor allem auch, dass Kinderarmut in den USA weit verbreitet ist und durch die seit vielen Jahren grassierende Opioidepidemie noch verstärkt wurde. Besonders betroffen davon sind bis heute die ländlichen Regionen der Appalachen, in einigen Countys sind, wie Barbara Kingsolver in einem Interview für die New York Times sagte, »zwischen 15 und 35 Prozent der Kinder nicht von ihren Eltern großgezogen worden, weil die abhängig waren, im Knast oder tot sind.« Das ist die Welt, in die Damon Field geboren wird, von einer Mutter im Teenageralter, die gerade auf Entzug ist, der Vater ist schon ein halbes Jahr tot. Wegen seiner roten Haare wird er von allen nur Demon (Dämon) Copperhead genannt, nach den Giftschlangen mit einer kupferroten Zeichnung, die in der Gegend heimisch sein sollen. Ein zweites Zuhause findet er bei der Nachbarfamilie, den Peggots, mit deren Enkel Maggot ihn eine innige Freundschaft verbindet. Demon ist noch in der Elementary School, als seine Mutter das fragile Lebensgebäude dann durch einen neuen Mann zum Einsturz bringt.

Der »Monstertruck des Jugendamts« begleitet ihn daraufhin zuerst auf die Farm von Creaky, der gleich mehrere Jungs als kostenlose Erntehelfer einsetzt. Bei den McCobbs geht es ihm auch nicht besser, er kommt im »Hunderaum« unter und arbeitet nach der Schule als Müllsortierer. Ein neues Zuhause findet er bei Coach Winfield und seiner Tochter, er ist auf dem besten Weg zum Football-Star zu werden, bis ihn eine Verletzung in die Fänge einer Opioidsucht treibt. Am Ende dieser 850 Seiten langen, virtuos erzählten Odyssee bleibt Demon nur die Wahl unterzugehen oder sich von der »allgemeinen Unfähigkeit« zu befreien, den Wert von Jungen wie ihm allein daran zu messen, »was sich aus ihnen rauswringen lässt, auf dem Tabakfeld, dem Schlachtfeld, dem Spielfeld.«

Barbara Kingsolver, »David Copperhead« (DTV), € 26,–

01.03.2024 | Jürgen Abel