Claudia Schumachers Debüt »Liebe ist gewaltig«

Zahlen, Dresche, Streuselkuchen

Claudia Schumacher
Claudia Schumacher, Foto: Roman Raacke
Nach einem mentalen und körperlichen Zusammenbruch landet die 17-jährige Juli zur Kur in einem »Kneippkurort mit Moorheilbad« im Schwarzwald. In einem wunderbar flapsigen Tonfall entfaltet sich dort das kuriose Szenario einer suizidgefährdeten Jugendlichen im Kuralltag unter lauter alten Leutchen – und nach und nach auch des Irrsinns, der sie dorthin gebracht hat. Das ist der furiose Auftakt des Debütromans »Liebe ist gewaltig« (dtv) von Claudia Schumacher, einem sehr berührenden Coming-of-Age-Roman, der sich fast auch ins Horror-Genre einordnen lässt, denn erzählt wird ziemlich harter Stoff.

Nach außen ist in dieser Familie alles tippi toppi, der Vater arbeitet als Anwalt für die Autoindustrie, und auch die Mutter ist Juristin. Wenn sie mit ihrer Jüngsten am Samstag zum Shoppen nach Stuttgart fährt, flanieren Mutter und Tochter in bester Laune durch die Königstraße, und »Juli Schatz« darf dann »die Läden leer shoppen, bis die Kreditkarte glüht«. Was sich im Hintergrund der wohlsituierten schwäbischen Familienidylle abspielt, erzählt die Ich-Erzählerin Juli in der ersten Episode des Romans, sie spielt 2007, und Juli ist 17 Jahre alt. Das Programm, von dem ihre Familie bestimmt wird, ist vielleicht noch am besten mit einem fatalen Mix aus »Dresche und Streuselkuchen« angerissen.

Max, der Erstgeborene und seine Schwester Alex, die Zweitälteste, retten sich früh in die Selbstständigkeit, der Sonnyboy Bruno und Juli, das Nesthäkchen der Familie, haben weniger Glück, sie müssen damit leben, dass der Binnenraum ihrer Familie mehr und mehr vom Wahn eines narzisstischen Vaters beherrscht wird. Er verachtet Durchschnittlichkeit und fordert von seinen Kindern wie von seiner Frau stets Größe, Klasse, Einzigartigkeit. Seine Liebesbekundungen sind so ungezügelt, selbstsüchtig und unberechenbar wie seine Verachtung, seine Wutausbrüche und die Schläge, von denen sie flankiert werden. Auch die Mutter ist dieser Mechanik hilflos ausgesetzt und schafft es nicht, sich schützend vor ihre Kinder zu stellen, sondern backt nach schlimmen Misshandlungen zum Trost halt einen Kuchen.

Welche Folgen das vor allem für Juli und Bruno hat, wird in der zweiten Episode des Romans deutlich, in der Juli aus ihrer Zeit in Berlin 2014 erzählt. Die herausragende Mathematikerin unterrichtet an der Universität, steht kurz vor der Promotion, ist eine erfolgreiche Profi-Gamerin und fürchtet sich allenfalls vor der unberechenbaren »Restwelt«, die nicht von Zahlen bestimmt wird. Und sie hat allen Grund dazu, denn zur Wahrheit ihrer tollen Performance gehören auch eine Tablettensucht, ein fehlender Freundeskreis, die scheiternde Beziehung zu einer Frau und vor allem ihre unkontrollierbare Wut. Die hat sie mit Bruno gemeinsam, der in Hamburg auf dem Sprung zu einer Karriere als Profimusiker ist und sich, genau wie seine Schwester, durch seine Gewalttätigkeit selbst im Weg steht. Ihre Mutter vertritt sie beide als Anwältin und hat sich sonst mit ihrem Mann und den älteren Kindern darauf verständigt, dass es Gewalt in ihrer Familie nie gab. Es ist eine Legende, der sich Juli anschließt, als sie 2016 in der dritten Episode des Romans mit dem Reisemanager Thilo nach Zürich zieht und sich als »Roboterfrau«, wie Bruno beklagt, neu erfindet, um endlich von all dem loszukommen, was hinter ihr liegt.

Kann das alles versöhnlich enden? Die Antwort darauf ist vielleicht schon dieser Roman selbst, mit dem es Claudia Schumacher gelingt, eine Sprache für etwas zu finden, das im wohlsortierten deutschen Mittelstand eigentlich nicht vorkommt.

Die Buchpremiere mit Claudia Schumacher findet am 08. Juni statt. Nachtasyl im Thalia Theater, Alstertor 1, 20.00 Uhr, € 15,40 (VVK)

Claudia Schumacher, »Liebe ist gewaltig«, dtv, € 22,–


26.05.2022 | Jürgen Abel