Clemens Setz neuer Roman »Monde vor der Landung«
Den »Windmühlen-Vorteil« nutzen
Clemens Setz, Foto: Max Zerrahn
Wir alle stehen in irgendeinem Buch«, schreibt Clemens J. Setz in »Der Fall des Henry Bemis«. Er gibt dann auch gleich ein paar Beispiele für Bücher, in denen er selbst auftaucht, etwa als Tochter, als Außerirdischer und als Luftballon, und er ist erstaunt, dass er sich zwar als »Schulterreiter« bei Günter Eich findet, aber weder bei Franz Kafka vorkommt noch bei Thomas Mann, Peter Handke und Brigitte Kronauer. Das könne man »gern nachsehen«, heißt es da schließlich noch. Und schwups, schon sind wir mitten in einem Verwirrspiel in der Grauzone von Fiktion und Realität, das Clemens J. Setz in seiner Literatur so oft betreibt und nicht nur in dieser Geschichte mit der Warnung versieht, sich bloß nicht in einer Parallelwelt zu verirren.
Dem Helden in seinem neuen Roman »Monde vor der Landung« passiert genau das, er ist das Paradebeispiel eines manischen Nerds und Egozentrikers, der sich in einer Wahnwelt verliert – und dabei nicht nur sich selbst zugrunde richtet. Als Plot ließe sich das gut auch aus der Gegenwart heraus erzählen, schließlich haben Querdenkertum und Verschwörungstheorien spätestens seit der Pandemie durchaus Einfluss auf die gesellschaftliche Großwetterlage. Doch Clemens J. Setz hat mit den Recherchen an seinem Roman schon vor zwölf Jahren begonnen, und er erzählt eine ›wahre‹ Geschichte. In den drei Teilen »Der Himmel«, »Die Erde« und »Die Leere«, die sich aus vielen kleinen Episoden zusammensetzen, fächert er das Leben von Peter Bender auf. Der wurde am 30. Mai in Bechtheim geboren, war ein hochbegabter Schüler, meldete sich 1914 als Kriegsfreiwilliger, wurde Fliegerleutnant, überlebte schwer verwundet einen Absturz und heiratete die jüdische Apothekertochter Charlotte Asch. Das Paar zog nach Worms, bekam zwei Kinder, Bender wurde Vorsitzender des Arbeiter- und Soldatenrats, gründete eine Religionsgemeinschaft und veröffentlichte 1927 den Roman »Karl Tormann«. Das sind die wichtigsten biografischen Eckdaten. Clemens J. Setz flankiert sie durch einmontierte Briefe, Fotos und andere Dokumente aus dem Leben von Bender. Angetrieben wird der Roman jedoch von seiner völlig abstrusen Ideenwelt, die oft förmlich aus ihm heraussprudelt. Peter Bender ist nämlich Anhänger und strenger Verfechter der Hohlwelt-Theorie, nach der die Menschen nicht auf, sondern im Inneren einer Kugel leben, er ist überzeugt, dass Wärme aus dem Erdboden und nicht von der Sonne kommt und glaubt: »Nichts ist so frei wie Monde vor der Landung«.
Aus unserer Perspektive heute klingt das komplett irrsinnig, und dennoch brennt sich dieser Peter Bender am Ende des Romans als einer ins Gedächtnis, der sich eine eigene Idee und Anschauung in einer Welt macht, die mit der Moderne vor ungeahnten Umbrüchen steht. Während viele in seiner Umgebung dem Wahn einer kollektiven Verblendung verfallen, kämpft er unerbittlich, als angezählter Don Quichotte stets den »Windmühlen-Vorteil« nutzend, oft dem Zusammenbruch nahe und noch öfter nur gehalten von einer starken Frau an seiner Seite, auf den einsamen Holzwegen seiner Hohlweltkugel. Und bleibt doch ein Mensch unter Menschen.
In den schicksalhaften Momenten seines Lebens – das gehört zu vielen Feinheiten dieses großen Romans – läuft Peter Bender immer eine »mysteriöse Ziege« über den Weg. Es ist das »Clan-Tier« von Clemens J. Setz, wie er in einem Interview erklärte, und »ein Vorbild«, von dem er sich inspirieren lässt, weil Ziegen so stur und so keck sind. Das haben sie mit diesem Peter Bender gemeinsam, dem die Fragen nie ausgehen und noch weniger die stets sehr poetischen Erklärungen: »So ein riesiges, lautes, verfluchtes Mysterium das alles.« Für Peter geht es leider so ganz und gar nicht gut aus.
Clemens Setz, »Monde vor der Landung«, Suhrkamp, € 26,–
01.05.2023 | Jürgen Abel