Dana Grigorceas neuer Roman »Das Gewicht eines Vogels beim Fliegen«

Man hört ihn fliegen

Dana Grigorcea
Dana Grigorcea, Foto: Mardiana Sani
Es geht um eine weitreichende Frage, die glücklicherweise von einem konkreten Gegenstand aufgeworfen wird, einer golden schimmernden Bronze, hoch aufschießend, mit einem lang gestreckten, geschwungenen Korpus. »Vogel im Raum« nennt der Bildhauer Constantin Brâncuşi die 1926 entstandene Skulptur. In einem Gerichtsverfahren »Brâncuşi vs. USA« wird 1927 verhandelt, ob es sich hier um einen Kunst- oder einen Gebrauchsgegenstand handelt. In ihrem neuen Roman »Das Gewicht eines Vogels beim Fliegen« erzählt Dana Grigorcea von dem Prozess, der Rechts- und Kunstgeschichte schrieb und verknüpft Episoden aus dem Leben des Bildhauers im New York der 20er Jahre mit der Geschichte einer Schriftstellerin in der Gegenwart.

Es ist ein Markenzeichen der schweizerisch-rumänischen Schriftstellerin Dana Grigorcea, die 1979 in Bukarest geboren wurde und seit vielen Jahren mit ihrer Familie in Zürich lebt, dass sie in ihrer Literatur meisterhaft Fährten aus der Literatur- und Kunstgeschichte aufgreift und fortführt. Ihre Novelle »Die Dame mit dem maghrebinischen Hündchen« (2018) verlegt Motive aus Anton Tschechows berühmter Erzählung über die Affäre eines notorischen Frauenhelden von der Jaltaer Strandpromenade des 19. Jahrhunderts an den Zürichsee der Gegenwart, und ihr zuletzt erschienener Roman »Die nicht sterben« (2022), für den sie mit dem Schweizer Buchpreis ausgezeichnet wurde, schreibt den Dracula-Mythos als grandiose Schauergeschichte im postkommunistischen Transsilvanien fort.

In ihrem neuen Roman »Das Gewicht eines Vogels beim Fliegen« geht es zum Auftakt in den Festsaal der RMS Mauretania, deren Gäste im Mai 1926 von Liverpool nach New York reisen. An Bord ist auch ein Künstler, im Roman heißt er Constantin Avis. Sein reales Vorbild ist der in seiner rumänischen Heimat auch heute noch hoch verehrte avantgardistische Bildhauer Constantin Brâncuşi. Er reist für eine Einzelausstellung nach New York und bringt dafür ein neues Werk mit, seinen »Vogel im Raum«, der nicht das Objekt selbst, sondern durch Reduktion des eigentlichen Gegenstandes die Dynamik eines Vogelfluges einfangen will. Die Zollbeamten haben bei der Einreise wenig Verständnis für abstrakte Kunst, sie erkennen ein perfekt poliertes Stück Metall, das etwa eineinhalb Meter lang ist und verlangen von dem Künstler, dass die Bronzestatue verzollt wird, obwohl Kunstgegenstände sonst zollfrei ins Land dürfen. Der junge Künstler lässt sich davon nicht abschrecken, er schwebt schon bald auf den rosaroten Wolken einer neuen Liebe und mit der Aussicht auf großen Erfolg durch die Stadt der Träumer und Macher. Doch wie weit kann ihn seine Kunst wirklich tragen? Heute gilt sein Vogel als Ikone der modernen Skulptur, nur, was genau macht ihn eigentlich dazu? Der Prozess, in dem der Vogel vom Gegenständlichen freigesprochen und als Kunst anerkannt wurde, gibt darauf keine eindeutige Antwort, dafür aber Dana Grigorcea mit ihrem Roman.

Erzählt wird die Geschichte von Constantin Avis und seinem »Vogel im Raum« von der Schriftstellerin Dora Marcu. Sie hat sich mit ihrem achtjährigen Sohn und einem Kindermädchen in einem Hotel an der Küste Liguriens eingemietet, um einen Roman über den Bildhauer zu schreiben. Und tatsächlich findet sie hier die Ruhe und Inspiration, die ihr im Alltag als Mutter und Künstlerin sonst fehlt. Während sie sich peu à peu ihren Stoff erarbeitet, werden die Grenzen zwischen Fiktion und dem beschaulichen Leben im Hotel mit Kind, Kindermädchen und anderen Gästen immer durchlässiger. Alltagsbeobachtungen und -begebenheiten fließen in den Roman ein, der sich gleichzeitig mit seinen Figuren in der Realität spiegelt. Das Leben wuchert plötzlich in den Roman hinein und die Kunst gleichzeitig aus ihm heraus. Die Frage, was Kunst ist und wozu wir sie brauchen, beantwortet der Roman am Ende mit diesem Akt der Transzendenz, dem bewussten Spiel mit den Möglichkeiten, in dem sich das Eigentliche offenbart. Bei diesem »Vogel im Raum« lässt sich diese Mechanik durch einen einzigen Satz illustrieren: Man kann ihn fliegen hören.

Dana Grigorcea, »Das Gewicht eines Vogels beim Fliegen« (Penguin), € 24,–

01.04.2024 | Jürgen Abel