David Wagners neuer Roman »Verkin«
Ein Erzählparadies zwischen Orient und Okzident
David Wagner, Foto: Linda Rosa Saal
Es beginnt mit einem Prolog über eine »Schönheit«, eine »weiße türkische Vankatze« mit einem hellblauen und einem braunen Auge. Bei einem Willkommensfest für die »Wunderkatze« lernt der Ich-Erzähler, ein Berlin lebender Schriftsteller, die Überbringerin kennen. Sie heißt Verkin und lebt in Tarabya, einem historischen Stadtteil von Istanbul in einem Haus, das über dem europäischen Ufer des Bosporus zu schweben scheint. Dort überbringt ihr der Schriftsteller ein paar Wochen später »Wurstwaren« aus Deutschland zum Dank für die Katzenschönheit. Nach Istanbul führt ihn eine Recherchereise, er schreibt ein Buch über den Boom von Einkaufszentren in Istanbul, ist jedoch bald verführt von den Geschichten aus dem beinahe märchenhaften Leben von Verkin und beginnt, sich Notizen über die Gespräche mit seiner Gastgeberin zu machen.
Verkin, erklärt sie ihm bei einem seiner Besuche, das sei ein alter armenischer Name, der »Bewahrer des Wissens« bedeutet und »hohe Frau«. Damit ist das Programm für diesen Roman vorgegeben: Eine »Frau von Stand«, 1946 in Istanbul als Tochter eines Unternehmers geboren, der in den Zeiten von Atatürk die Elektrifizierung des Landes besorgte, erzählt von ihrer Kindheit, ihrer uralten, immer wieder verfolgten armenischen Familie, ihren Lebensstationen in einem Internat in der Schweiz, in Paris, Berlin und im New York der siebziger Jahre.
Einen Plot gibt es in diesem Roman nicht, dafür entfaltet David Wagner mit seiner Heldin ein »Erzählparadies« zwischen Orient und Okzident. Ob sie sich das eigentlich alles ausdenken würde, fragt er Verkin eines Tages. Ihre Antwort ist so vielsagend wie ambivalent: »Welcome to Türkiye, my dear.«
David Wagner, »Verkin«, Rowohlt, € 26,–
01.11.2024 | Jürgen Abel