Deniz Ohdes Roman »Ich stelle mich schlafend«

Von einem alten Geist berührt

Deniz Ohde
Deniz Ohde, Foto: Börge Meyn, Suhrkamp Verlag
Über soziale Herkunft, strukturelle Diskriminierung und die Konsequenzen für die Bildungsbiografie eines begabten Arbeiterkindes erzählt Deniz Ohde in »Streulicht«. Es war eines der erfolgreichsten Romandebüts der letzten Jahre, wurde mehrfach ausgezeichnet und zum Bestseller. In diesem Frühjahr hat die in Leipzig lebende Schriftstellerin nun ihren zweiten Roman vorgelegt: »Ich stelle mich schlafend« (Suhrkamp) ist die Rekonstruktion einer dunklen Liebe – und einer verheerenden Gewalttat.

Als sie die Diagnose »Adoleszentenskoliose« erhält und kurz darauf in ein Sanatorium eingewiesen wird, ist Yasemin schon eine Ewigkeit in Vito verliebt, jedenfalls gemessen am Zeitempfinden einer vierzehnjährigen Jugendlichen. Und Vito bleibt wochenlang der »Ankerpunkt ihrer Gedanken«, während sie daran arbeitet, ihre in einem Wachstumsschub verkrümmte Wirbelsäule aufzurichten. Jede Körperhaltung unterzieht sie dabei einem Verhör, kommt aber dennoch nicht um ein Korsett herum, das die Wirbelsäule für einige Jahre ausrichten muss. Als sie in die Hochhaussiedlung zurückkehrt, in der sie und Vito aufgewachsen sind, ist ihr der eigene Körper so fremd, dass ihr jede körperliche Nähe nur noch zuwider ist. Die stürmische Jugendliebe, von der sie glaubt, sie mit einem Liebeszauber geweckt zu haben, ist vorbei, noch bevor sie richtig begonnen hat und gelebt werden konnte.

Es vergehen viele Jahre, bis Vito und Yasemin sich dann zufällig wiedersehen. Ist es Schicksal, fragt sich Yasemin, und hofft noch für einen Moment darauf, dass die sofort wieder aufflammende Liebe schon vorbeigehen würde, bis sie endgültig gefangen ist von diesem »Gefühl der Unausweichlichkeit«. Sie gibt die glückliche Beziehung zu ihrem langjährigen Freund Hermann auf und stellt auch sonst, »wie von einem alten Geist berührt«, alles in Frage, was sie sich bis dahin aufgebaut und erarbeitet hat.

Deniz Ohde erzählt die sehr verschiedenen Lebenswege von Vito und Yasemin bis zu ihrer Wiederbegegnung in Rückblenden und aus verschiedenen Perspektiven. Sie erklären den Trümmerhaufen nicht, vor dem wir Yasemin gleich zu Beginn des Romans begegnen, sondern zeigen, dass es für die Gewalt, der sie plötzlich ausgesetzt ist, keinen individuellen Grund braucht, sondern nur eine Projektionsfläche. So wie der Vollmond, der den Roman als Motiv begleitet und Yasemin nicht etwa den vielzitierten »Mann im Mond« zeigt, sondern »ein Gesicht, das sie an eine schreiende Frau« erinnert.

Deniz Ohde, »Ich stelle mich schlafend« (Suhrkamp), € 25,–

30.03.2024 | Jürgen Abel