Dmitrij Kapitelmans »Russische Spezialitäten«

Den Bruderkuss üben

Dmitrij Kapitelman, Foto: Paula Winkler
Es ist ein Feuerwerk der Ironie und sprachlichen Feinheiten, das Dmitrij Kapitelman auch in seinem dritten Roman mit einem untrüglichen Gespür für punktgenau gesetzte Pointen entfacht, und es beginnt schon mit dem Titel »Russische Spezialitäten« (Hanser Berlin). Dazu gehören bei Kapitelman nicht nur Wodka, Kwas, Kaviar und Matrjoschkas, sondern auch der politisierte Wetterbericht, die »Tomatentrauer« und ein KGBschnik als Präsident. All das könnte einfach nur lustig sein, doch es geht um ein bitterernstes Thema, das Familien, Freundschaften und ganze Gesellschaften spaltet.

Schon Dmitrij Kapitelmans Debütroman »Das Lächeln meines unsichtbaren Vaters« wurde in den Feuilletons gefeiert und in Hamburg 2016 mit dem Klaus-Michael-Kühne-Preis des Harbour Front Literaturfestivals ausgezeichnet. In seinem folgenden Roman »Eine Formalie in Kiew« (2021) erzählt er die teils autobiografische Geschichte einer Familie, die einst voller Hoffnung in die Fremde zog und am Ende ohne jede Heimat dasteht. Stoisch versucht der Sohn nach 25 Jahren als Landsmann, die deutsche Staatsbürgerschaft anzunehmen – und erlebt eine Bürokratie, der keine Formalie zu klein ist, um das zu verhindern.

Dmitrij Kapitelman ist im Alter von acht Jahren als »Kontingentflüchtling« mit seiner Familie nach Deutschland gekommen und war selbst eines Tages damit konfrontiert, dass eine Sachbearbeiterin beim Ausländeramt für die Einbürgerung »die behördliche Bestätigung einer behördlichen Bestätigung« von ihm forderte. Eigene Erlebnisse sind nun auch in seinen neuen Roman eingeflossen, in dem er von einer jüdischen Familie aus Kyjiw erzählt, die seit Jahrzehnten in Leipzig zu Hause ist und dort russische Spezialitäten verkauft.

Im familieneigenen »Magasin« gibt es all das, was aus der Warenwelt von den »Nashi«, womit »alle Osteuropäer gemeint sind«, im Westen begehrt wird, also Wodka und Pelmeni, aber auch »sämtliche sowjetische Erfrischungsklassiker« und natürlich Weißkraut, Fleisch und Fisch. Ganz nebenbei ist das »Magasin« zudem ein Ort, in dem ein irgendwie osteuropäisches Zusammengehörigkeitsgefühl zelebriert wird und in dem auch die alt gewordenen »DDR-Hüpfer« noch einmal den »Bruderkuss« üben können. Doch damit ist es seit dem russischen Überfall auf die Ukraine nicht nur einfach vorbei, sondern das Zugehörigkeitsgefühl hat sich in ein Minenfeld verwandelt, das den Ich-Erzähler sogar von seiner eigenen, in Russland geborenen Mutter trennt. Sie glaubt nämlich den russischen Nachrichten, die zu Hause jeden Tag im Fernsehen laufen und gibt »allen außer Russland die Schuld« für den Krieg.

Dmitrij Kapitelman erzählt in einzelnen Episoden, die man auch als abgeschlossene Erzählungen lesen kann, wie das Familienleben vom »Wetterreporter von Atschinsk« über »Mamas lustige Rote Armee im Landkreis Grimma« und dem »Feld der russischen Wunder« bald vollständig von der Propaganda »Fernsehrusslands« überlagert wird. Sogar noch als er sich entschließt, selbst nach Kyjiw zu reisen, begleitet ihn eine »Verschwörungswahrheit« seiner Mutter, obwohl er doch nach nichts dringender sucht als nach Möglichkeiten der Verständigung. Aber wie soll er sie in einem Land finden, in dem er sich nur in Russisch, seiner geliebten »Mutter-Sprache« verständigen kann, die dort inzwischen als Sprache der Besatzer verpönt ist? Vor allem dieser zweite Teil des Romans, in dem Dmitrij Kapitelman vom Alltag mit dem Krieg in der Ukraine erzählt, ist eine tief bewegende Lektüre – und eine eindringliche Warnung vor politischer Propaganda, Lügen und Populismus.

Dmitrij Kapitelman, »Russische Spezialitäten«, Hanser, € 23,–

28.01.2025 | Jürgen Abel