Dörte Hansens neuer Roman »Zur See«

Wo die wilden Winde wehn

Dörte Hansen
Dörte Hansen, Foto: Sven Jaax
Mit ihrem neuen Roman »Zur See« schafft Dörte Hansen erneut den Spagat zwischen Hochliteratur und glänzender Unterhaltung. Aber ein wenig die Zähne zusammen beißen muss man schon auch. Das liegt vor allem an der Unberechenbarkeit des Meeres, von der jeder Seemann ein Lied singen kann. Und dem ernüchternden Blick der Autorin auf die Natur, das Leben im hohen Norden und die Touristenherden, die ihn durchwandern.

Auf einer kleinen Insel, die eine Fährstunde vom Festland aus »irgendwo in Jütland, Friesland oder Zeeland« in der Nordsee liegt, lebt in einem von zwei Dörfern seit fast 300 Jahren die Familie Sander. Zum Auftakt des Romans begegnen wir dem ältesten Sohn der Familie, Rykmer, der zu Hause bei seiner Mutter Hanne lebt. Der Alkoholiker gerät auch noch als »Decksmann« auf der Fähre, die zwischen dem Festland und der Insel verkehrt, in allzu schwere See, weil er die »weiße Wand« nicht vergessen kann, die Seemänner kaum je einmal überleben. Rykmer hat diese Riesenwelle als Kapitän eines Tankers auf der Kommandobrücke gesehen und wird seitdem von Ahnungen schwerster Stürme gequält.

Nach und nach stellt der Roman in einem Figurenreigen auch die anderen Familienmitglieder vor, die schwer tätowierte Eske, den Bildhauer Henrik, den Familienvater Jens, der seit seiner Zeit auf See als einsamer Vogelwart auf einer Vogelinsel lebt. Es sind die eher stillen Ereignisse eines Jahres, die bis zum großen Finale des Romans nach und nach alles verändern, was die Familie in den Jahrzehnten und Jahrhunderten zuvor bestimmte. Die unheimliche Regie führt dabei das alles umschließende Meer, das wie eh und je seine Stürme schickt, auch wenn die Fischerhemden in den Hafenläden längst nur noch von Touristen gekauft werden.

Dörte Hansen erzählt in ihrem Roman vom stillen Niedergang einer Kultur, von der nur das noch bleibt, was sie einmal geprägt hat: die Unbedingtheit der Natur und ihrer Kräfte. Der Sound, von dem der Roman getragen wird, ist ein feiner Humor, der längst als Dörte Hansens Markenzeichen gelten kann, aber auch – der tosenden See entsprechend – die Heavy-Metal-Beats einer unerbittlichen Inselfrau, die das Rollkofferrattern an der Strandpromende mit ihrem eigenen Rhythmus hinterlegt.

Dörte Hansen, »Zur See«, Penguin, € 24,-


28.12.2022 | Jürgen Abel