Fatma Aydemirs »Dschinns«
Wahrheiten, die immer da sind
Fatma Aydemir, Foto: Sibylle Fendt
Der Ausgangspunkt ist eine Geschichte der Arbeit, wie sie sich auf der Nachtseite der deutschen Wirtschaftswunders zugetragen hat und bis heute fortsetzt. Sie ist das tragende Motiv und zieht sich im Hintergrund durch alle sechs Kapitel, die je einem Mitglied einer Familie gewidmet sind. In seiner soeben gekauften und eingerichteten Eigentumswohnung in Istanbul wird zum Auftakt im Jahr 1999 das Familienoberhaupt Hüseyin aufgerufen. Er wird in der zweiten Person, also mit einem Du angesprochen und zwar von einem »Schatten«. Dieser Schatten ist einer der Geister, der »Dschinns«, von denen es später heißt, dass sie Wahrheiten darstellen, »die immer da sind, ob man will oder nicht, aber die man nicht ausspricht, in der Hoffnung, dass sie einen dann in Ruhe lassen, dass sie im Verborgenen bleiben für immer«. Doch jetzt spricht dieser Schattengeist und es ist eine bittere Rechnung, die er Hüseyin präsentiert.
Vor fast 30 Jahren aus einem kleinen Dorf an der armenischen Grenze nach Deutschland ausgewandert, hat Hüseyin seitdem »in drei Schichten gelebt«, seine Gesundheit dabei ruiniert und sich zusätzlich auch noch jede Annehmlichkeit für seinen Traum einer eigenen Wohnung versagt. Und jetzt? Er bricht in seiner Wohnung zusammen und stirbt kurz vor dem Renteneintritt an einem Herzinfarkt. Seine Frau und seine Kinder wollten nur wenige Tage später zum ersten Mal in der neuen Wohnung zusammen kommen, jetzt reisen sie überstürzt aus Deutschland zu seiner Beerdigung an.
Da ist der fünfzehnjährige Ümit, der sich im Fußballverein in einen anderen Jungen verliebt hat, seine Schwester Peri, die für ein geisteswissenschaftliches Studium aus dem fiktiven Rheinstadt, wo die Familie lebt, nach Frankfurt gezogen ist, und da sind der große Bruder Hakan, ein Autohändler, und Sevda, die älteste unter den Geschwistern. In Rückblenden und Erinnerungen sind ihre Lebensläufe in die Erzählgegenwart eingearbeitet, sie zeigen den Patriarchen Hüseyin und seine Frau Emine aus verschiedenen Perspektiven der Entfremdung und des Ankommens, und sie bringen am Ende auch noch ein gut gehütetes Familiengeheimnis ans Licht.
Mehr als die anderen Kinder der Familie steht die bei den Großeltern in der Türkei aufgewachsene Sevda zwischen der Welt der Eltern mit ihren kulturellen Traditionen und familiären Zwängen und Deutschland. Sie wird erst als Jugendliche nachgeholt und früh verheiratet. Obwohl es ihr gelingt, sich eine unabhängige Existenz aufzubauen, bleibt ihr Verhältnis zu dem von Ausländerfeindlichkeit und rechter Gewalt geprägten Deutschland der 1990er Jahre tief ambivalent. Auf den Punkt bringt es Sevdas Freundin Havva: »Den Deutschen hier ist scheißegal, wie viele Sprachen wir sprechen oder zu wem wir beten. Sie sehen uns als Scheißtürken, also sind wir Scheißtürken. Fertig.« Ankommen nicht erwünscht, das ist die bittere Erfahrung, die Sevda mit ihren Eltern verbindet.
Ob sich der Roman nicht besser die ein oder andere schicksalhafte Wendung gespart hätte, ob am Ende auch noch die Erde beben muss, während Sevda zur Generalabrechnung mit ihrer Mutter ausholt, sind Fragen, die man sich schon stellen darf. Gleichzeitig ist es eben auch genau diese Maßlosigkeit, die »Dschinns« zum Erlebnis macht. Die aktuellen Diskurse um Identität und Rassismus, weibliche Selbstermächtigung, Marginalisierung, Klassismus und staatliche Gewalt sind alle auf die eine oder andere Weise und nicht immer subtil in diesem Roman geborgen. Fatma Aydemir hat sich nicht mit der halben Geschichte begnügt, sie wollte viel und entsprechend zwingend, atmosphärisch dicht und spannungsvoll ist ihre Prosa.
Fatma Aydmir, »Dschinns«, Hanser, € 24,–
29.03.2022 | Jürgen Abel