Florian Illies Buch über Caspar David Friedrich

Sehnuschtsmond im Nebelland

Winterlandschaft
Caspar David Friedrich: Winterlandschaft, 1811, Foto: Staatliches Museum Schwerin
Es gibt Bilder, die sich in wenigen Augenblicken in die Netzhaut brennen und dann zu einer Erinnerung werden, die man nicht mehr vergisst. Eines dieser Bilder wird seit Jahrzehnten unermüdlich und in immer neuen Varianten für die Titelseiten von Magazinen reproduziert, wenn deutsche Bewusstseinslagen zu verhandeln sind. Dann steht er da auf seinem Felsen und blickt in eine erhabene Landschaft: Caspar David Friedrichs »Wanderer über dem Nebelmeer«. Zum 250. Geburtstag des Romantikers werden seine Werke in mehreren großen Ausstellungen gezeigt. In Hamburg zeigt die Kunsthalle bis zum 1. April eine der umfangreichsten Werkschauen des Künstlers seit vielen Jahren. Und Florian Illies lädt mit seinem neuen Buch zu einer »Reise durch die Zeiten«, im Blick hat er dabei den »Zauber der Stille« (S. Fischer), der so vielen Bildern von Caspar David Friedrich zu eigen ist.

Es sei »ein großes Rätsel«, schreibt Florian Illies, wie ausgerechnet das heute berühmteste Bild von Caspar David Friedrich so lange verborgen bleiben konnte. Das ikonische Bild »Wanderer über dem Nebelmeer«, entstanden um das Jahr 1818, das eine der Hauptattraktionen der Jubiläumsausstellung sein wird, befindet sich noch gar nicht so lange im Besitz der Hamburger Kunsthalle. Angekauft wurde es im Dezember 1970 »für die damals erstaunliche Summe von 600.000 Mark«. Erst dann entfaltete das Bild seine »ungeheure Wirkung«. Wie konnte es passieren, dass ein Bild von solcher Strahlkraft so lange nicht gesehen und erkannt wurde? Eine einfache Antwort darauf kann auch Florian Illies in »Zauber der Stille« nicht geben, seine Zeitreise mit Caspar David Friedrich durch zwei Jahrhunderte ist vor allem deshalb eine so spannende Lektüre, weil sie das ganze Drama des Vergessens nachzeichnet, dem das Werk dieses großen Künstlers ausgesetzt war.

Es beginnt mit einem kurzen Prolog, der von einem Segelturn am 11. August 1818 erzählt. Friedrich ist mit seiner fast 20 Jahre jüngeren Frau in den Flitterwochen auf Rügen, mit 44 Jahren spät, aber glücklich verheiratet. Nur zwei Seiten weiter befinden wir uns im Juni 1931, der Münchner Glaspalast zeigt eine Sonderausstellung mit Werken deutscher Romantiker von Caspar David Friedrich bis Moritz Schwind und steht in Flammen. Florian Illies erzählt von den Reaktionen darauf und springt kurz darauf wieder zurück ins Jahr 1802, in dem »der kauzige Pommer« Caspar David Friedrich sich in Dresden ein Zimmer genommen hat. In diesem Perspektivwechsel zwischen Episoden aus dem Leben und Miniaturen über seine Werke, ihre Entstehungsgeschichte und ihren Verbleib, ihre Wirkung und mögliche Deutungsansätze entfaltet sich eine umfassende Gesamtschau über einen kauzigen Meister und seine »sehnsuchtsvolle Kunst«. Das Feuer, das sich nicht nur in München zentrale Werke von Caspar David Friedrich holt, ist neben dem Wasser, der Erde und der Luft eines der vier Ordnungselemente, die dem Buch eine Struktur geben.

Der Steckbrief für Caspar David Friedrich ist kurz: Geboren am 5. September 1774 in Greifswald als sechstes von zehn Kindern, sein Vater ist Talgseifensieder und Kerzengießer. Prägende Erlebnisse seiner Kindheit sind der frühe Tod seiner Mutter und der Tod seines Bruders, der ihm das Leben rettet und dabei selbst stirbt. Das Ereignis gilt als mögliche Ursache für spätere Depressionen des Malers. Studiert hat er von 1794 bis 1798 an der Königlich Dänischen Kunstakademie in Kopenhagen und zog danach nach Dresden. Weiter als ins Riesengebirge zum Wandern und an die Ostsee ist er nie gereist, obwohl das Fernweh der Romantiker legendär ist. Meist verließ er sein Atelier, in dem er stets einen Reisemantel trug, so erzählt es Illies, nur morgens und abends für einen Spaziergang an der Elbe.
Zu den gar nicht seltenen humorvollen Miniaturen aus dem Leben von Friedrich gehört auch, dass er als Züchter von Kanarienvögeln »wirklich revolutionär ist«, während seine Popularität als Maler schon in seinen letzten Lebensjahren sehr nachlässt.

Den Scheitelpunkt seiner Popularität erreicht Friedrich 1810. Der hochverehrte Geheimrat Johann Wolfgang von Goethe besucht ihn in seinem Atelier, das Bild, das er dort sieht, heißt »Mönch am Meer«, es wird kurz darauf in Berlin ausgestellt. Goethe gefällt es nicht, aber Heinrich von Kleist schreibt über das »wunderbare Gemälde«, dass es, »wenn man es betrachtet«, so ist, »als ob einem die Augenlider weggeschnitten wären«. Das Gemälde gilt heute als »der Anfang der abstrakten Malerei«. Friedrich verkauft zu dieser Zeit an angesehene Museen und sogar an Preußens König, doch das geheimnisvolle Zwielicht, das all seine Bilder bestimmt, ist bald nicht mehr en vogue. 1822 schreibt er dem Dichter Friedrich de la Motte Fouqué: »Man sagt, ich könne durchaus nichts anderes malen als Mondschein, Abendroth, Morgenroth, Meer und Meeresstrand, Schneelandschaften, Kirchhöfe, wüste Haiden, Waldströme, Klippenthäler und Ähnliches. Was meinen Sie dazu?« Er stirbt am 7. Mai 1840, sein Werk gerät in völlige Vergessenheit. Wiederentdeckt wird er erst 1906 bei der Berliner »Jahrhundertausstellung«, die ihn schlagartig zurück ins Bewusstsein der Öffentlichkeit holt. Die Kunst von Caspar David Friedrich gilt plötzlich als Inbegriff einer Epoche, seine radikale Subjektivität erlaubt Identifikation und Interpretation in alle Richtungen.

Ein bis heute verbreitetes Missverständnis über die deutsche Romantik ist das Klischee einer alle Rationalität und Naturwissenschaft verneinenden Kunst. Obwohl die Romantik als Gegenbewegung zur Aufklärung und ihrer Entzauberung der Welt, Empfindungen wie die Sehnsucht, das Mystische und Geheimnisvolle beschwört und mit Caspar David Friedrich, ihrem berühmtesten Maler, mondhelle Naturerlebnisse feiert, ist sie doch durchdrungen von Empirie und Rationalität. »Alle seine Himmel und all seine Lüfte«, schreibt Florian Illies, »erzählen von Friedrichs ungestilltem metaphysischen Hunger.« Doch in direkter Anschauung zu malen, ist diesem Maler höchst suspekt, seine Gemälde entstehen im abgedunkelten Atelier, sie rekonstruieren innere Bilder, die flankiert werden von Skizzen vor der Natur – und sind nach geometrischen Regeln aufgebaut. Das weist der Kunsthistoriker Werner Busch in seinem neu erschienenen Buch »Romantisches Kalkül« (Schlaufen Verlag) ausgehend von dem kleinen Bild »Kreuz an der Ostsee« nach. Dieses Prinzip, bei dem der Gedanke, also das Konzept oder die Idee dem Entstehen des Bildes vorauseilt, bezeichnen wir heute als Konzeptkunst.

Die Horizonte der Werke von Caspar David Friedrich sind, wie man daran sieht, längst nicht vollständig ausgeleuchtet, jede Zeit entdeckt und findet sich neu und anders in ihnen. Wie sich der Friederich’sche Sehnsuchtsmond in den nächsten Monaten im deutschen Nebelland der Gegenwart verfangen wird, ist eine spannende Frage. Vielleicht steht das »neuartige Verhältnis von Mensch und Natur« im Zentrum, das die Hamburger Kunsthalle mit Friedrichs Landschaftsdarstellungen ankündigt. Vielleicht verstrickt es sich auch in ein so anfälliges deutsches Konstrukt wie die Heimat. All das ist offen, immerhin empfiehlt sich mit Florian Illies‘ »Zauber der Stille« aber ein Buch, das man gut mit durch den Winter nehmen kann und in gleich mehrere sehr sehenswerte Ausstellungen im kommenden Jahr.

Florian Illies, »Zauber der Stille« (S. Fischer), € 25,–

28.11.2023 | Jürgen Abel