Franz Kafka »Die Zeichnungen«

Das große Unbekannte im Werk von Franz Kafka

© The Literary Estate of Max Brod, National Library of Israel, Jerusalem, Foto: Ardon Bar Hama
Zeichnung von Franz Kafka, © The Literary Estate of Max Brod, National Library of Israel, Jerusalem, Foto: Ardon Bar Hama
Jahrzehntelang blieb jener Teil des Nachlasses von Franz Kafka im Dunkel eines Banksafes in Zürich, den sein Freund und Nachlassverwalter Max Brod schon zu seinen Lebzeiten weitervererbt hatte. Im Sommer 2019 endete ein skurriler Erbstreit dann zugunsten der israelischen Nationalbibliothek. Die Erwartungen der Fachwelt an das, was man in dem Safe finden würde, waren nicht allzu groß. Nur für das weitgehend unbekannte Skizzenheft mit Kafkas Zeichnungen, das sich in dem Konvolut befand, hatte schon Max Brod große Neugier geweckt. Jetzt sind diese Zeichnungen erstmals bei C.H Beck erschienen – der Verlag spricht von einer »Weltsensation«.

In einem Brief an seine Verlobte Felice Bauer schreibt Franz Kafka 1913: »Du, ich war einmal ein großer Zeichner, nur habe ich dann bei einer schlechten Malerin schulmäßiges Zeichnen zu lernen angefangen und mein ganzes Talent verdorben. Denk nur! Aber warte, ich werde Dir nächstens paar alte Zeichnungen schicken, damit Du etwas zum Lachen hast. Jene Zeichnungen haben mich zu seiner Zeit, es ist schon Jahre her, mehr befriedigt, als irgendetwas.« Der Anspruch von Kafka an seine Zeichnungen, das zeigt sich hier, war hoch, auch wenn er damit nie eine Öffentlichkeit suchte. Vor allem in seiner Studienzeit von 1901 bis 1906 und im darauffolgenden Jahr als Rechtspraktikant betrieb er das Zeichnen in größter Ernsthaftigkeit«.

Sein Freund Max Brod, den er im Herbst 1902 kennenlernte und dem er später aufgab, neben seinen Manuskripten auch sein Zeichnungen »restlos zu verbrennen«, wusste jahrelang nicht einmal, dass sein Kommilitone schrieb, sammelte aber dessen Zeichnungen. Max Brod ist letztlich auch der opulente Band mit rund 150 Skizzen von Franz Kafka zu danken, den Andreas Kilcher, Professor für Literatur- und Kulturwissenschaft an der ETH Zürich, herausgegeben hat. Die Zeichnungen sind, wie Kilcher erklärt, auf Einzelblättern überliefert und in einem Zeichnungsheft, das aus 52 Seiten besteht, von denen die meisten gleich mehrere Skizzen beinhalten. Aus diesem Heft stammen die wenigen Zeichnungen, die durch Max Brod schon seit 1937 bekannt wurden und auf Umschlägen der Bücher von Kafka auch immer wieder erschienen sind. Brod hat sie einfach aus dem Heft ausgeschnitten. Doch was gibt es da nun sonst zu sehen, und was macht diese Skizzen und Kritzeleien zu einer »Weltsensation«?

In mehreren Schritten beleuchtet Andreas Kilcher im erläuternden Teil des Bandes »Kafkas Zeichnen und dessen Verhältnis zum Schreiben«. Er weist das anhaltende Interesse von Kafka für die Bildende Kunst nach, erzählt von Max Brods Versuchen, ihn als Künstler zu etablieren und plädiert für eine um die Dimension des Bildes »erweiterte Poetologie Kafkas«. Die minimalistischen Skizzen von durchaus auch witzigen Figuren, Figurengruppen und Ornamenten, mit denen Kafka Briefe, Postkarten und Manuskriptseiten verzierte, gelten heute längst als eigenständige Kunstform, die sich von der bloßen Vorarbeit zu Gemälden emanzipiert hat. Auch wenn die Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts nun sicher nicht neu geschrieben werden muss, der Blick auf eines der ganz großen Werke der Literatur wird sich mit diesem Buch ganz zweifellos verändern. Und das ist natürlich doch sensationell.

Franz Kafka, »Die Zeichnungen«, herausgegeben von Andreas Kilcher, C.H. Beck, € 45,–


23.12.2021 | Jürgen Abel