Gaël Fayes Roman »Jacaranda«

Eine Erinnerungsraum für die ganze Geschichte

 Gaël Faye
Gaël Faye, Foto: JF Paga
Schon in seinem Debüt »Kleines Land« thematisiert der französisch-ruandische Schriftsteller und Sänger Gaël Faye, der 1982 in Burundi geboren wurde, den Bürgerkrieg und die Flucht seiner Familie nach Frankreich. In seinem in einer Übersetzung von Andrea Alvermann und Brigitte Große erschienenen zweiten Roman »Jacaranda« greift er den Konflikt zwischen den Bevölkerungsgruppen der Hutu und Tutsi wieder auf und thematisiert den Völkermord in Ruanda 1994. Der Roman ist ein Ereignis, weil es Faye gelingt, eine unmittelbare und unprätentiöse Sprache für ein Geschehen zu finden, für das es keine angemessenen Worte gibt. In Frankreich wurde der hochgelobte Roman u.a. mit dem Prix Renaudot ausgezeichnet.

Milan lebt mit seinen Eltern in Versailles. Er ist ganz normaler Junge in gut situierten Verhältnissen, der lange überhaupt nichts von dem weit über Frankreich hinausweisenden Horizont seiner Familiengeschichte weiß. Das ändert sich unvermittelt, als eines Tages verstörende Bilder aus Ruanda in den Abendnachrichten gezeigt werden. Und dann taucht auch noch ein Junge ungefähr in seinem Alter auf. Er heißt Claude und wird ihm von seiner Mutter als Verwandter aus Ruanda vorgestellt. Es ist der Beginn einer Lebensfreundschaft, obwohl Claude schon nach kurzer Zeit wieder nach Ruanda zurückkehrt. Erst als Jugendlicher reist Milan dann mit seiner Mutter nach Ruanda und begegnet dort nicht nur Claude wieder, sondern auch dem dubiosen Sartre, der in Kigali ein Domizil für verwaiste Kinder und Jugendliche betreibt. Seine Mutter verweigert ihm auf dieser Reise beharrlich, jede Auskunft über all seine Fragen nach seiner Herkunft und die weit verzweigte Familie in Ruanda und Burundi.

Warum erzählt sie nie aus ihrer Kindheit und Jugend? Und warum hat sie selbst als junge Frau das Land verlassen? Milan reist in den Jahren daraufhin immer wieder auf eigene Faust nach Ruanda. Nach und nach begreift er, warum seine Mutter nicht sprechen will, und deckt schließlich nicht nur seine Familiengeschichte auf, sondern auch die Ursprünge eines familiären Traumas, das tief mit der Geschichte des Landes und dem Konflikt zwischen den Tutsi und Hutu verbunden ist, der 1994 in Ruanda zu einem Völkermord führte.

Ein Ereignis ist dieser sehr kluge und empfindsame Roman, weil es Gaël Faye gelingt, eine unmittelbare und unprätentiöse Sprache für ein Geschehen zu finden, für das es keine angemessenen Worte gibt. Nicht der Völkermord und seine unsagbare Gewalt steht im Vordergrund, sondern eine Erzählung über Herkunft, Familie und das Leben zwischen verschiedenen Kulturen. Von Verdrängung und Leugnung wird der literarische Erinnerungsraum von Gaël Faye dabei nicht begrenzt, die Gewaltgeschichte wird in ihrer ganzen Dimension sichtbar, bestimmend ist jedoch stets der weit verzweigte »Jacaranda« als Lebensbaum, der dem Roman seinen Titel gegeben hat.

Gaël Faye, »Jacaranda«, Piper, € 24,–

15.09.2025 | Jürgen Abel