Gerbrand Bakkers Roman »Der Sohn des Friseurs«
Der Friseur, sein Vater, sein Liebhaber und ihr Salon
Gerbrand Bakker, Foto: Gerbrand Bakker/A Quattro Mani/Suhrkamp Verlag
Es ist eine archetypische Beziehung, von der in der Literatur seit Urzeiten erzählt wird, mal als Abgrenzung durch Kampf und Konkurrenz, mal als Identifikation des Sohnes mit dem Vater, so wie in den ersten vier Gesängen von Homers »Odyssee«. Da begibt sich Telemachos auf die abenteuerliche Suche nach seinem abwesenden Vater Odysseus, von dem er nicht weiß, ob er noch lebt, und reift unterdessen zum Mann. Mit dieser Geschichte beginnt vor 2800 Jahren die europäische Literatur. Eine sehr gegenwärtige Variation dieser Vater-Sohn-Geschichte erzählt Gerbrand Bakker in seinem Roman und verknüpft sie mit dem grundlegenden Zwiespalt zwischen dem Streben nach persönlichem Glück und Selbstverwirklichung einerseits und der individuellen Verantwortung mit all ihren Verpflichtungen in einer Gemeinschaft.
Simon ist Friseur mit einem eigenen Salon in Amsterdam, so wie schon sein Vater und sein Großvater, und Simon ist ein sehr guter Schwimmer, schwul, noch nie in einer festen Beziehung, eher schweigsam und zurückhaltend, hilfsbereit, gewissenhaft und zuverlässig, aber eben auch etwas antriebs- und teilnahmslos, jedenfalls dem Urteil seiner Mutter nach. Die findet, er sei »ein großes Kind« und schon deshalb genau die richtige Hilfe mit einer Gruppe Jugendlicher, die sie am Wochenende ehrenamtlich im Schwimmbad betreut. Simon lässt sich nur unter viel Zureden dafür begeistern und verliebt sich dann prompt in den stummen Igor. Gleichzeitig ist er durch die Recherchen eines Schriftstellers, dem er seit Jahren die inzwischen grauen Haare schneidet, plötzlich mit der Geschichte seines Vaters konfrontiert. Der starb 1977 auf Teneriffa, als zwei Jumbojets bei dichtem Nebel auf der Piste des Flughafens Los Rodeos kollidierten. Es ist mit 583 Toten der bis heute schwerste Unfall der zivilen Luftfahrt.
Gerbrand Bakker lässt die verheerende Flugzeugkatastrophe und ihre Umstände als semidokumentarische Erzählung in den Roman einfließen und verknüpft sie meisterhaft mit der zunehmend drängenderen Suche von Simon nach Antworten. Warum ist sein Vater unangekündigt in den Urlaub geflogen, nachdem er von der Schwangerschaft seiner Frau erfuhr? Wusste er davon, dass sich ein Praktikant aus dem Friseursalon mit ihm an Bord befand? Und warum wollte seine Mutter nicht, dass sein Name auf der Gedenktafel des Gräberfeldes auf dem Friedhof steht? Auf all diese Fragen gibt Gerbrand Bakker in seinem Roman mögliche Antworten, auch die am Anfang schon leise ausgeworfenen Handlungsfäden, die ins Teneriffa der Gegenwart führen, finden auf den letzten Seiten in einem furiosen Finale zusammen. Und sind doch die Fiktion in einer Fiktion, die als Buch des Schriftstellers am Ende auf Simons Nachttisch landet und ein magisches Versprechen beinhaltet: Man muss es nur aufschlagen und schon öffnet sich eine ganze Welt.
Gebrand Bakker, »Der Sohn des Friseurs« (Suhrkamp), € 25,–
30.03.2024 | Jürgen Abel