Hamburg liest Borchert

»Denn lila sind nachts unsere Himmel«

Wolfgang Borchert
Wolfgang Borchert 1940, Foto: Staats- und Universitätsbibliothek Carl von Ossietzky
Er wurde am 20. Mai 1921 in der Tarpenbekstraße 82 in Eppendorf geboren und nur 26 Jahre alt. Vor allem in dem schmalen Zeitfenster von 1945 bis zu seinem Tod 1947, in dem er schon schwer krank war, entstand ein literarisches Werk, durch das Wolfgang Borchert zu einem der populärsten Schriftsteller seiner Generation wurde. Die wiederkehrende Aufforderung »Sag nein!« aus dem Manifest, das er kurz vor seinem Tod schrieb und das als sein Vermächtnis gilt, wurde für Jahrzehnte zum Wahlspruch der Friedensbewegung in Westdeutschland. Den 100. Geburtstag des Hamburger Jung in diesem Mai feiert seine Heimatstadt mit einem großen Festival unter dem Motto »Hamburg liest Borchert«. Zu entdecken gibt es einen Schriftsteller, dessen Werk auch heute noch höchst lesenswert ist.

Sein Drama »Draußen vor der Tür«, das 1947 in den Hamburger Kammerspielen uraufgeführt wurde, ist eines der berühmtesten Stücke aus der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts, es markiert zusammen mit Zuckmayers »Des Teufels General« den Beginn der Nachkriegsdramatik in Westdeutschland. Wolfgang Borchert selbst hat den Erfolg seines Theaterstücks nicht mehr miterlebt. Er starb einen Tag vor der Uraufführung in einem Krankenhaus in Basel. Das in wenigen Tagen im Spätherbst 1946 entstandene Stück über den Kriegsheimkehrer Beckmann, der verzweifelt nach Orientierung und einem Platz in der Nachkriegsgesellschaft sucht, wurde in Deutschland bis zum Jahr 2000 fast 300-mal inszeniert und in 40 Sprachen übersetzt. Als literarisches Meisterwerk galt das Stück jedoch auch Borchert selbst nicht, es »sollte nur wahr und lebendig sein und das aussagen, was einen jungen Menschen heute bewegt«.
Für das Borchert-Festival hat das Hamburger Literaturhaus eine zeitgemäße Annäherung an das Theaterstück im Programm, ein Diskussionsabend (18.05.) thematisiert die aktuellen Lebenswirklichkeiten von Exilautor:innen in Hamburg. Auf sehr eigenständige und gegenwärtige Weise in Szene setzt der vielfach ausgezeichnete Künstler und Illustrator Jakob Hinrichs das Stück. Die Illustrationen zu dem Buch werden in einer Ausstellung in der Kunstklinik bis zum 4. Juni gezeigt.
Zur Eröffnung des Festivals treffen sich am 17. Mai in den Hamburger Kammerspielen der Schauspieler Charly Hübner, die Autor:innen Simone Buchholz, Isabel Bogdan, Bela B Felsenheimer, Matthias Politycki sowie die Musiker*innen Lisa Wulff, Gabriel Coburger und Stefan Gwildis mit dem Ersten Bürgermeister Peter Tschentscher. Der Abend mit Gesprächen über Borchert, Texten und Musik wird natürlich im Livestreaming angeboten, er steht unter dem Motto »Ich bin der Nebel, der um die Laternen tanzt«. Das ist eine dieser typischen Borchert-Sentenzen aus seinen frühen Gedichten, die er bereits mit 15 Jahren und wie im Rausch schrieb.
Peter Rühmkorf erzählt in seiner Bildmonographie über Borchert von einem »jungen Negativ-Proteus«, einem »Allesversucher und Nichtskönner«, mit einer »Produktion von beängstigender Extensität«, der seinen Eltern oft bis zu zehn Gedichte am Tag vortrug. Der Vater, ein Volksschullehrer und seine Frau, die plattdeutsche Heimatschriftstellerin Hertha Borchert, waren davon nicht immer begeistert. Vor allem der Vater begegnete den Höhenflügen des Sohnes mit Skepsis, zumal dem jungen Dichter richtige Grammatik und Rechtschreibung ganz egal waren. »Zu guter Grammatik fehlt uns Geduld«, schreibt er auch nach dem Krieg noch in »Das ist unser Manifest«, (…)»denn lila sind nachts unsere Himmel. Und das Lila gibt keine Zeit für Grammatik, das Lila ist schrill und ununterbrochen und toll.«
Da will einer »hoch hinauf zu leuchtenden Gipfeln«, wie es in einem frühen Gedicht heißt, bricht die Schule ab und eine Buchhändlerlehre in Hamburg, um Schauspieler zu werden. Es war dieser »Gipfelstürmerpathos« (Rühmkorf), dieser ungebrochene Idealismus, der den schwärmerischen jungen Mann später mehrfach wegen Wehrkraftzersetzung ins Gefängnis brachte und durch den er zum gefeierten Dichter einer »vom Krieg gemarterten und von der Nachkriegsgesellschaft ausgeschlossenen Generation« (Marcel Reich-Ranicki) werden konnte.
Aus dem Krieg kehrte Wolfgang Borchert als schwerkranker Mann zurück. In seinem Krankenbett schrieb er 1946 und 1947 Texte, die er als »Storys« bezeichnete. Die erste dieser Arbeiten ist seine berühmte Erzählung »Die Hundeblume«, es folgten Kurzgeschichten wie »Das Brot«, »Nachts schlafen die Ratten doch« oder »Die Küchenuhr«, ausnahmslos Erzählungen, die bis heute durch ihre sorgfältige Komposition, ihre Versachlichung, ihr Understatement und ihre Lakonie begeistern. Vor allem diesen großartigen Kurzgeschichten ist mit dem Borchert-Festival in Hamburg ein neues und großes Lesepublikum zu wünschen. Und ganz unabhängig davon viele Begegnungen mit dem Werk des Dichters im Stadtraum, denn auch das gehört zum Festivalprogramm: Zitate aus »Draußen vor der Tür« sollen, gestaltet von der Typografin Chris Campe, überall in Eppendorf an Türen angebracht sein; »mobile Gärten« mit Maiblühern schmücken verschiedene Borchert-Orte in der Stadt, sogar Löwenzahnsamen wurden zum Festival verschickt und sollen vom Publikum ausgesät werden, damit zum Geburtstag des Dichters »überall die gelbe Hundeblume blüht«.

Alle Veranstaltungen und Tickets gibt es auf www.hamburg.liest.de




30.04.2021 | Jürgen Abel