Die 19. Ausgabe des Hamburger Literaturjahrbuchs ZIEGEL
Das Pappreptil beißt lautlos zu

Illustration aus dem ZIEGEL #19 © Moritz Wienert
Zum Auftakt hören wir »ein wenig Piano aus unsichtbaren Lautsprechern«, unterwegs treten viele alte Bekannte auf, darunter die Blues Brothers, Status Quo und Garth Brooks, Freddy Quinn und der »Lord of Lightning«, Gitte, Christian Anders und eine »Punkband ohne Namen«. Da erzählt Anna Depenbusch mit ihrer »Frau Rachals« von einem »Resonanzraum«, in dem »hundert Jahre Hamburg nachklingen«, Marc Degens lässt für ein Interview John Lennon wieder auferstehen, Johann Scheerer inszeniert in »Play« das Drama um das Artwork eines neuen Musikalbums, bei Till Raether ertönen »Lindwurmklänge« und bei Herbert Hindringer »komponierte Vögel«.
Musik flankiert den aktuellen ZIEGEL auf den folgenden über 400 Seiten, doch das ist nur der Grundtenor einer Ausgabe, bei der das Herausgeber-Team selbst überrascht davon waren, wie es im Vorwort heißt, dass sich bei der Textzusammenstellung »plötzlich phänotypische Fragen unserer Zeit« in den Vordergrund drängten und damit die harten Themen der Gegenwart.
Gleich im Auftaktkapitel »Die Stille in der Mitte des Lärms« erzählt Magdalena Saiger in »Happy« von einer Welt, in der das Primat der Ökonomie alles beherrscht. Ein von außen »gelenktes Leben« in einer gespaltenen Gesellschaft und die Sehnsucht nach Selbstbestimmung thematisiert auch Anna Bytom in ihrer Erzählung »Käserinde«. Unter den Motti »Sehnsucht nach dem Knall« und »Das Pappreptil beißt lautlos zu« greifen gleich zwei Kapitel dieses ZIEGEL die Wut als prägendes Gefühl der Gegenwart auf, wobei es hier nur am Rande um die Unzufriedenheit mit der Politik geht: Juliane Pickel und Anja Schwennsen berichten von wütenden Vätern, während bei Andreas Moster ein wütendes Kind auftritt und Mia Oberländer in ihrem Comic zur Besichtigung an den Schauplatz eines eskalierten Familienstreits führt.
Abschließend lädt der ZIEGEL schließlich »in Dur und in Moll« zu einer bestimmenden Erfahrung unserer Zeit, dem »Verlust«. Da tritt bei Katharina Hagena das Orchester »Stille Wasser« in einem Altenheim mit »Luftinstrumenten« zum Konzert an, Melitta Roth erzählt von »Babulja«, die eines Tages einfach verschwindet, und mit Anne Sauer geht es nach Wien, wo »singende Swifties« nach der terrorbedingten Konzertabsage von Taylor Swift gemeinsam feiern. Bei Andreas Münzner tauchen ganz am Ende »sich aufplusternd« noch ein paar »Fluchttiere« auf und mit ihnen vielleicht die Frage, was von der Lektüre dieses opulenten Readers bleibt?
Literatur kann belehren und unterhalten, und sie stellt mit diesem ZIEGEL ein ganzes Spektrum von An- und Einsichten in einem Proberaum des Lebens zur Verfügung – einen kalkulierbaren Nutzen hat sie allerdings nicht. So ist das auch bei der schwarzen Katze von dem Zeichner Moritz Wienert, die sich in diesem ZIEGEL herumtreibt, sie ist zwar da, hält sich als »Tochter der Freiheit« (Schiller) jedoch sehr vornehm aus allem heraus, jedenfalls solange ihr keine Maus in die Quere kommt.
ZIEGEL #19, Hamburger Jahrbuch für Literatur, mairisch Verlag, € 20,–
25.03.2025 | Jürgen Abel