Helen Macdonald »Abendflüge«

In der Wunderkammer der Natur

Helmut Heißenbüttel, Selbstporträt
Helen Macdonald, Foto: Marzena Pogorzaly
Schon mit ihrem international gefeierten Bestseller »H wie Habicht« wurde die britische Autorin und Historikerin Helen Macdonald zum Shooting Star des Nature Writing. In ihrem neuen Buch »Abendflüge« (Hanser) lädt sie in kurzen Essays zu Streifzügen in die Wunderkammer der Natur. Sie verbindet dabei meisterhaft Persönliches, Politisches und Gesellschaftliches mit dem Versuch, ein tieferes Verständnis für die Welt zu finden, in der wir leben.

Von der »Mission Erde« über »Das geheime Leben der Bäume« bis zum »Laubwerk«, vom eher brachialen Tierrettungsbestseller über ein populärwissenschaftliches Sachbuch bis zum poetischen Essay über Stadtbäume – die Beschreibung von Natur in all ihren Facetten und Wahrnehmungen ist ein genreübergreifendes Thema der Gegenwartsliteratur. In Deutschland ist das ein noch relativ junger Trend, in den USA und Großbritannien steht das Nature Writing dagegen in einer großen Tradition, die ihren Ausgangspunkt schon in den naturkundlichen Werken von Alexander von Humboldt im 19. Jahrhundert nimmt. Nach und nach wurde das Genre in den letzten 20 Jahren nun auch hierzulande populärer, vor allem die von Judith Schalansky bei Matthes & Seitz herausgegebenen »Naturkunden« haben dafür eine kaum oft genug zu rühmende Kernerarbeit geleistet. Ganz entscheidend ist jedoch, dass in den zunehmenden Herausforderungen durch die Klimakrise eine gesellschaftliche Verständigung über Naturvorstellungen und –erfahrungen, die uns leiten sollten, immer drängender wurde. Helen Macdonalds zeigt in ihren Essays, was das heißt. Wie eine Wunderkammer würde ihr Buch funktionieren und sich mit dem Staunen beschäftigen, schreibt sie in der Einführung zu »Abendflüge«, und es sei voller seltsamer Dinge. Ganz so seltsam sind sie dann aber doch nicht: Da sind die »Nester«, mit denen Helen Macdonald zum Auftakt über die Erfahrung eines Zuhauses, über das Bedrohtsein und Vereinzelung spricht, da sind die Mauersegler, in denen sie in der titelgebenden Erzählung »Gleichnisse für die Gemeinschaft« findet, die uns lehren, wie man in schwierigen Situationen die richtigen Entscheidungen trifft, und da ist der Hochzeitsflug der Ameisen, in dem sich die »unterschiedlichen Größenordnungen des Daseins« zeigen. Helen Macdonald beobachtet mit einem ganz eigenen und sehr persönlichen Blick, und sie zeigt, wie wir uns selbst durch Natur finden und verstehen können, ohne ihre Komplexität durch menschliche Zuschreibungen zu vereinfachen und zu verfremden. Es ist ein reiches Buch, dessen Fundus seit Jahren in rasender Geschwindigkeit ärmer wird. Die Literatur kann das zwar nicht verhindern, aber ein bewegendes Zeugnis davon abgeben, was zu bewahren ist – nicht etwa für eine ferne Zukunft, sondern auch schon für die Zeit, in der wir leben.

Helen Macdonald stellt »Abendflüge« am 9. Juni im Literaturhaus Hamburg vor.
Literaturhaus, Schwanenwik 38, 19.30 Uhr, € 12,–/8,–, Streamingticket: € 5,–, Livestream und Tickets: www.literaturhaus-hamburg.de/programm


Helen Macdonald, »Abendflüge«, Hanser, € 24,–


09.06.2021 | Jürgen Abel