Ingo Schulzes »Die rechtschaffenene Mörder«

Prinz Vogelfrei mit neuen Kräften

Ingo Schulze
Ingo Schulze, Foto: Gaby Gerster
Was mache ich hier eigentlich, will ich das wirklich lesen? Das fragt man sich auf den ersten Seiten von Ingo Schulzes neuem Roman nicht ganz grundlos. Und es ist ein Zweifel, der die Lektüre für einige Zeit begleitet, obwohl der Autor mit dem Motto aus Vilem Flussers »Geschichte des Teufels« eine Warnung an den Anfang des Romans stellt: »Wer kann denn das Ende eines Buches auch nur erahnen, wenn er darangeht«. Ingo Schulze erweist sich in »Die rechtschaffenen Mörder« einmal mehr als höchst listenreicher Erzähler, der virtuos mit den stilistischen und formalen Möglichkeiten der Gegenwartsliteratur spielt und dabei auch noch glänzend unterhält.

Im ersten Teil von »Die rechtschaffenen Mörder« erfahren wir in einem fast märchenhaften Ton von einer Legende der Buchkultur in der DDR, dem Antiquar Norbert Paulini, der »einst« im »Dresdner Stadtteil Blasewitz« lebte. Ein Sonderling, den seine Eltern schon als Säugling auf Bücher betten. Nach einer Ausbildung zum Buchhändler eröffnet dieser Paulini am 23. März 1977 sein eigenes Antiquariat und genießt damit bald schon weit über die Stadtgrenzen hinaus einen exzellenten Ruf, ja, er gilt als Original, von dem sich »stets gut erzählen« lässt, und als »Prinz Vogelfrei« feiern ihn nach einem Gedicht von Friedrich Nietzsche seine Freunde und Verehrer. Bei »Lesungssamstagen« versammelt sich stets ein elitärer Kreis von Gästen in seinem Haus, der Herr Antiquar findet in Viola eine Frau und im Sommer 1989 wird ihr gemeinsamer Sohn Julian geboren.

Zur »Paulini-Legende«, die im ersten Teil des Romans erzählt wird, gehört aber auch der beispiellose Niedergang, der dem Antiquar daraufhin blüht. Er verliert fast alles und findet schließlich doch in »Sonnenhain« in der sächsischen Schweiz einen idyllischen neuen Ort für sein Antiquariat. Dort bricht die Legende schließlich ab – mitten im Satz – in der Gegenwart und mit einem Verhör.

Was ist passiert? Das fragt sich auch der Autor der Legende im zweiten Teil des Romans, er heißt Schultze und ist von Ingo Schulze nur durch ein kleines t entfernt, ihm also zum Verwechseln ähnlich. Dieser Schultze wollte dem Dresdner Antiquar und seinem Mentor ein Denkmal setzen, »den Westlern« damit zeigen, »wo wahre Bildung lebte«, ganz nebenbei auch seine »Herkunft adeln« und ist plötzlich als verliebter Narr mit einem Mann konfrontiert, der in seinem »Herrschaftswahn« zu allem fähig ist. Aber auch zu einem Mord? Im dritten Teil des Romans tritt die Lektorin des Autors eine Reise in die sächsische Schweiz an und landet in einem Ort, in der Bedrohung und Angst alltäglich sind, und sie sich fragen muss, ob für Lektoren eigentlich eine Schweigepflicht gilt.

Ingo Schulze, »Die rechtschaffenen Mörder«, S. Fischer, € 21,–

22.03.2020 | Jürgen Abel