Iris Wolffs neuer Roman »Lichtugen«

Countdown einer Liebe

Iris Wolff, Foto: Maximilian Goedecke
Bisher ist Iris Wolff mit ihren Romanen stets auf die ein oder andere Weise in die Regionen ihrer Kindheit zurückgekehrt, zuletzt mit dem hochgelobten und mehrfach ausgezeichneten Roman »Die Unschärfe der Welt«, einer Familiensaga mit Schauplätzen im Banat und in Siebenbürgen. Ihr neuer Roman »Lichtungen« (Klett-Cotta) spielt nun in einem kleinen Dorf im rumänischen Vielvölkerstaat in den letzten Jahren der Ceausescu-Diktatur. Er erzählt die tief berührende Geschichte einer Freundschaft und Liebe als Reise in die Vergangenheit. Sie beginnt in der Gegenwart und mit einem Happy End.

Auf die berühmte Frage Jean Amérys »Wieviel Heimat braucht der Mensch?« gibt Iris Wolff, die 1977 in Sibiu (Hermannstadt) in Siebenbürgen geboren wurde und 1985 nach Deutschland kam, vor einigen Jahren in einem Interview die Antwort: »So viel wie es geht und an so verschiedenen Orten wie möglich. Gerne auch in einem anderen Menschen, einem Buch, einem Baum.« Das muss kein Widerspruch zu der landläufigen Vorstellung sein, dass wir mit Heimat den Ort verbinden, an dem wir geboren und aufgewachsen sind, es zeigt nur sehr deutlich, dass die Konstrukte von Heimat und Herkunft vielschichtig sind. Zugehörigkeit sei »vielleicht nichts anderes als eine Entscheidung«, erklärt Ferry seinem Enkelsohn Lev in »Lichtungen« und entscheidet sich als Sohn eines Österreichers und einer Siebenbürger Sächsin für die Flucht aus der Ceausescu-Diktatur über die grüne Grenze nach Wien. Sein Enkelsohn dagegen verweigert sich der »Zuteilung in Deutsch oder Rumänisch«. Er bleibt in dem kleinen Dorf zurück, in dem er aufgewachsen ist, auch nachdem die Grenzen offen sind.

Erst als Lev eines Tages eine Postkarte aus Zürich erhält, darauf der Satz »Wann kommst du?«, macht er sich auf den Weg. Wir begegnen ihm zu Beginn des Romans im neunten Kapitel auf einer Fähre mit Kato, der großen Liebe seines Lebens. Wie bei einem Countdown rechnet der Roman daraufhin die Kapitelfolgen bis zu dem auslösenden Ereignis der Freundschaft zwischen Lev und Kato herunter. Seit ihren Kindertagen sind sich die beiden durch eine innige Liebe und Zugewandtheit verbunden, die ihnen Halt und Sicherheit im kommunistischen Rumänien gibt. Die Öffnung der Grenzen in Europa verändert ihre Beziehung dann für immer, die Lebensentwürfe weiten sich – und Kato zieht es, wie so viele andere, hinaus in die Welt, während Lev weiter die Pfade ihrer Kindheit abläuft: »Vom Fortgehen weiß er nichts. Nur von Abwesenheiten.«

Iris Wolff erzählt in ihrem hochpoetischen Roman eine zeitlose Liebesgeschichte als Reise in die Vergangenheit und kommt dabei fast en passant mitten in der Gegenwart an. Es sind die Abwesenden, die heute viele Regionen im Osten Europas prägen, nachdem ganze Generationen junger Leute in den Westen gegangen sind. Iris Wolff schenkt ihnen mit »Lichtungen« ein literarisches Porträt von großer Schönheit und Eleganz.

Iris Wolff, »Lichtungen« (Klett-Cotta), € 24,–

01.02.2024 | Jürgen Abel