Joy Williams Erzählband »Stories 2«
Die Stille im Auge des Orkans
Es gibt eine auffällige Stille in den Erzählungen von Joy Williams, ein Innehalten zwischen dem, was geschehen ist und was passieren wird, in dem ihre Figuren gefangen sind, vielleicht auch ein Zögern an einem Kipppunkt der Normalität, bevor eine Tragödie sie verschlingt, bevor das trügerische Auge des Orkans weiterzieht und das, was ihm folgt, alles mit sich reißt. Das ist unheimlich und so verstörend, dass ausgerechnet Bret Easton Ellis, selbst ein Meister des Abgründigen, sagte, ihm fehle »der Mut, die Geschichten von Joy Williams ein zweites Mal zu lesen«.
Gleichzeitig ist die Selbstverständlichkeit, mit der bei Williams das Unheimliche ganz normal erscheint, auch klassisch für das Genre. Short Stories sind als literarische Momentaufnahme, die einen Zufallsausschnitt aus dem Leben ohne Anfang und Ende erzählen, ein klassischer Topos und die Königsdisziplin der amerikanischen Literatur. Als Großmeister des Genres gelten u.a. Sherwood Anderson, Carson McCullers, F. Scott Fitzgerald oder Raymond Carver, dessen schmales Werk in Deutschland jahrelang als Inspirationsquelle insbesondere unter jungen Autorinnen und Autoren gehandelt wurde. In diese prominente Reihe gehört auch Joy Williams, eine Kommilitonin von Raymond Carver an der Universität von Iowa.
Nach einem ersten Versuch mit zwei Erzählbänden, die in den 1990er-Jahren weitgehend unbeachtet blieben, hat es mehrere Jahrzehnte gedauert, bis das Werk von ihr auch in Deutschland ankam. 2023 wurde der erste Band mit »Stories« in Übersetzungen von Brigitte Jakobeit und Melanie Waltz als »spektakuläre literarische Entdeckung« (Thea Dorn) gefeiert. Es folgte der im Original 1971 erschienene Debütroman »State of Grace« (2024), ebenfalls übersetzt von Julia Wolf. Die jetzt auf Deutsch erschienenen Erzählungen sind zum Teil also vor Jahrzehnten entstanden und trotzdem sehr nah dran an dem, was uns heute umtreibt. Verstärkt wird dieser Eindruck dadurch, dass alle Erzählungen von Williams nahezu ohne zeitgeschichtliche Referenzpunkte auskommen, aber als »Klima- oder Ökoliteratur« (Bernd Ulrich in Die ZEIT) gelesen werden können, in der die fundamentale Krise der Natur und das, was sie mit den Menschen macht, stets mitschwingt. Häufig stehen die Figuren von Williams dabei quer im Leben, sind Außenseiter, Einsame und Übersehene, denen wir im Binnenraum enger Beziehungen begegnen.
Zum Auftakt von »Stories 2« geht es mit »Hawk«, dem »Bericht« über einen von der Erzählerin geliebten deutschen Schäferhund, und »Anstelle eines Vorworts« zuerst im beiläufigen Plauderton um den Pianisten Glenn Gould. Dann rückt eine lebensgefährliche Attacke des sonst stets sanftmütigen Hundes auf die Erzählerin ins Zentrum, für die es keine rationale Erklärung gibt und »keinen Trost«. Erst als die Erzählerin aufhört, nach einer vernünftigen Erklärung für das zu suchen, was passiert ist, findet sie einen Weg damit umzugehen. In dieser Story beschreibt Joy Williams das poetische Programm ihrer Literatur so: »Vorstellungskraft ist nichts. Erklärungen sind nichts. Man kann nur Erfahrungen machen und sie irgendwie beschreiben – mit einer, wie Camus es ausdrückt, scharfsichtigen Gleichgültigkeit.« Diese schonungslose und doch hellsichtige Distanz zeigt sich auch bei den Auftritten von Joy Williams: Angeblich trägt sie immer eine Sonnenbrille mit Sehstärke, bei Tag und bei Nacht.
Joy Williams, »Stories 2« (DTV), € 26,–
30.11.2025 | Jürgen Abel


