Judith Hermanns Roman »Daheim«

Vom Glück der Veränderung

Judith Hermann
Judith Hermann, Foto: Andreas Labes
Wo und in welcher Welt sind wir da eigentlich? In der Gegenwart, in der Zukunft? So deutlich ist und wird das nicht. Es gibt eine nicht näher beschriebene Bedrohung, die scheinbar alles und ausnahmslos jeden bestimmt. Es regnet nicht. Oft ist es heiß. Dennoch spielt dieser Roman in einer Idylle, in der sich die Sehnsucht auf geheimnisvolle Weise erfüllt und das, obwohl die Liebe so fragil und verloren bleibt. Ein Zwischenreich, kein Zuhause und keine Fremde, das ist der Ort, an dem Judith Hermann das Figurenensemble ihres neuen Romans zusammenruft. Und sie alle sind an diesem Ort irgendwie »Daheim« (S. Fischer).

Eigentlich hätte der neue Roman von Judith Hermann schon vor einem Jahr erscheinen sollen und wurde dann, wie eine ganze Reihe von Büchern, wegen der Corona-Pandemie immer wieder verschoben. »Das ausgefallene Erscheinen«, hat sie in einem Interview mit »NWZ online« gesagt, »war wie ein Brief, den man abschickt und vergeblich auf eine Antwort wartet – ein eigenartiger Zustand, manchmal schwierig, oft aber auch auf eine seltsame Weise frei.« Judith Hermann beschreibt damit ganz treffend eine Ambivalenz, in der auch alle Figuren ihres Romans gefangen bleiben.
Da ist die Ich-Erzählerin, eine Frau Ende 40, die gerade aus der Stadt in ein Dorf in Friesland gezogen ist. Sie lebt allein in einem kleinen Haus »draußen am Polder« und fragt sich, ob sie in ihrer Jugend die richtige Entscheidung getroffen hat. Damals wollte sie ein Zauberer für den klassischen Trick mit der zersägten Jungfrau in der Kiste auf eine Reise auf einem Kreuzfahrtschiff nach Singapur mitnehmen. Sie hat sich dagegen entschieden und arbeitet jetzt als Kellnerin in der Kneipe ihres Bruders. So richtig ankommen will sie in diesem Leben auf dem Lande jedoch nicht, sondern vielmehr »mit niemandem in Verbindung gebracht werden«. Mit ihrem Ex-Mann Otis pflegt sie einen liebevollen Briefwechsel. Er lebt allein in zwei Wohnungen, in denen er ein großes Archiv von Dingen ansammelt, die in der nahenden Katastrophe von Nutzen sein sollen. Der gemeinsamen Tochter Ann gibt er den Rat mit auf den Lebensweg, »auf nichts zu warten«. Als die Eltern sich trennen, ist Ann »ein flackender Punkt auf einer südlichen Insel«. Sie ist ständig in Bewegung, ab und zu gibt sie ihre Koordinaten über ein Satellitentelefon durch, in der Romanzeit von einem Segelschiff aus dem Kattegat, dann aus dem Nordatlantik vor Island, also irgendwo zwischen den Welten. Und in diesem Irgendwo im Nirgendwo sind die Figuren dieses Romans ausnahmslos »Daheim«, sogar die Künstlerin Mimi und ihr Bruder, der archaische friesische Schweinezüchter Arild. Obwohl sie beide über viele Generationen in Friesland verwurzelt sind, finden sie keinen Schutz, nicht vor der Apokalypse, die alle zu erwarten scheinen, und nicht vor den Verwüstungen des Lebens. Arilds Haus ist leergefegt, nachdem seine Frau ihn verlassen hat, doch jetzt ist da ja die neue Freundin seiner Schwester, die versessen auf ihn ist und bereit, »alle Höllenhunde« mit ihm loszulassen.
»Das Entscheidende wird nie gesagt. Doch die Augenblicke sind sehr beredt«, hat Helmut Böttiger einmal über die Erzählungen von Judith Hermann gesagt. So ist es auch in diesem Roman. In großer Lakonie öffnet Judith Hermann die Erzählräume und lässt dann offen, was offen bleiben muss, damit sich die ganze existenzielle Wucht des Gesagten entfalten kann. Umso mehr wir dann mit den Figuren dieses Romans nach Antworten und Interpretationen der Zerwürfnisse, verlorenen Lieben und des apokalyptischen Furors suchen, der als Verunsicherung über allem schwebt, umso weniger greifbar sind sie. Was bleibt, ist so eine Art Magie des Profanen und Alltäglichen, in dem all die großen Ereignisse am Ende aus dem Blick geraten, damit das Glück der Veränderung sich endlich zeigen kann.

Judith Hermann stellt »Daheim« am 19. Mai im Literaturhaus Hamburg vor.
Literaturhaus, Schwanenwik 38, 19.30 Uhr, Streamingticket: € 5,–, Livestream und Tickets: www.literaturhaus-hamburg.de/programm /


Judith Hermann, »Daheim«, S. Fischer, € 21,–


01.05.2021 | Jürgen Abel