Die Anthologie »Kafka gelesen«

Mit Odradek in die Zukunft

Kafka_gelesen
Franz Kafka, 1923, Foto: gemeinfrei
Es gibt keinen Autor der Moderne, um den sich so viele Legenden und Anekdoten ranken. Gleichzeitig ist der Einzelgänger Franz Kafka, dessen Werk zu seinen Lebzeiten kaum wahrgenommen und gelesen wurde, der als Beamter in Prag arbeitete und am 3. Juni 1924 mit nur 40 Jahren starb, der weltweit bekannteste Schriftsteller der Moderne. Entsprechend groß ist der Wirbel um seinen 100. Todestag. Da gibt es die neue Fernsehserie »Kafka« von David Schalko und Daniel Kehlmann, eine Neuauflage der Werke und unzählige weitere Publikationen. Eine davon heißt »Kafka gelesen« (S. Fischer) es ist eine Anthologie mit Beiträgen von u.a. Marcel Beyer, Marie-Luise Knott und Joseph Vogl, die Sebastian Guggolz herausgegeben hat.

Von Jutetaschen über T-Shirts, Kaffeebecher und Streichholzschachteln bis zum Clipboard, es gibt kaum einen Alltagsgegenstand, der in den Souvenirshops in Prag heute nicht mit dem Konterfei von Franz Kafka erhältlich wäre. Sehr beliebt sind auch Käferabbildungen und in allen Variationen die minimalistischen Zeichnungen von Franz Kafka, von denen erst vor wenigen Jahren viele zum ersten Mal aus dem Nachlass publiziert werden konnten. All das illustriert den Ruhm und die anhaltende Popularität des Schriftstellers, aber was macht ihn auch im 21. Jahrhundert noch so aktuell? Beschreiben lässt sich das mit nur einem Wort: »kafkaesk«. Der Begriff wurde in aller Welt zum Synonym für etwas, das wir »auf unergründliche Weise« als »bedrohlich« wahrnehmen. Kein anderer Autor hat so eindringlich das Ohnmachtsgefühl gegenüber einer Macht beschrieben, deren Mechanismen sich uns genauso zu entziehen scheinen wie ihr Zentrum.

Von einer schon klassischen kafkaesken Erfahrung erzählt Katerina Poladjan in der Anthologie »Kafka gelesen«: Bei einem Behördengang mit Freunden aus dem Ausland in Berlin erweist sich ein Einkaufszentrum als verwirrendes Labyrinth, das beharrlich jeden Zugang zu dem darüberliegenden Amt verweigert. Einer der schönsten Texte des Bandes stammt von Esther Kinsky, er heißt »Kafkas Katze« und erzählt unter dem titelgebenden Stichwort »Kafka gelesen« von den frühen Lektüreerfahrungen der Autorin mit Kafkas Erzählungen und vor allem von all den Tieren, die da so oft auftauchen, von Pferden und Hündchen, Tauben und Wölfen, Schlangen und Mäusen und jenem Mischlingstier aus Lamm und Katze, »in dem die widersprüchlichsten Verhaltensweisen angelegt sind, ohne je zum Zug zu kommen, weil offenbar die eine Hälfte stets die andere hemmt«.

Ganz in der Gegenwart kommt schließlich Clemens Setz in seinem Beitrag zu dem Band mit seiner Interpretation der kurzen Erzählung »Die Sorge des Hausvaters« an, die 1920 in dem Band »Ein Landarzt« erschienen ist. Sie handelt von einem seltsamen Ding, das offensichtlich lebendig ist, einer »sternartigen Zwirnspule«, genannt »Odradek«. Es spricht und lacht und hält sich nach seinen eigenen Regeln im Treppenhaus, auf dem Dachboden und den Gängen im Haus auf. Der »Hausvater« nimmt es als tiefe Kränkung für unser »vorübergehendes Belebtsein« wahr, dass dieses Ding nicht nur ihn selbst, sondern auch seine Kinder und Kindeskinder überdauern wird. Clemens Setz erwartet, dass bald viele dieser »beseelt wirkenden Dinge« die Parks, Straßen und Treppenhäuser besiedeln werden. Wahrscheinlich gehört die Zukunft sogar allein diesen »neuen Odradeks«. Ob sie dann eines Tages auch das drängend Aktuelle dieses jüdischen, deutschen Jahrhundertschriftstellers für sich entdecken werden, der zuerst von ihnen erzählte?

»Kafka gelesen. Eine Anthologie«, S. Fischer, € 24,–

27.05.2024 | Jürgen Abel