Katerina Poladjans neuer Roman »Hier sind Löwen«

Armenische Bindetechnik

Katerina Poladjan
Katerina Poladjan, Foto: Andreas Labes
Es ist einer der hochgelobten Romane aus dem vergangenen Jahr, gefeiert »als Schatzkästlein, das mehr enthält, als man sehen kann« (»Frankfurter Rundschau«), und nominiert für den deutschen Buchpreis 2019. Die Schauspielerin und Autorin Katerina Poladjan, 1971 in Moskau geboren und russisch-armenischer Herkunft, verbindet in »Hier sind Löwen« (S. Fischer) ihre eigene Familiengeschichte mit einer Reise in die Geschichte Armeniens und einer Spurensuche über den Völkermord der christlichen Armenier in der Türkei vor 100 Jahren. Ausgangspunkt ist eine Jahrhunderte alte handgeschriebene Familienbibel.

Ein wissenschaftliches Austauschprogramm führt die Buchrestauratorin Helene Mazavian in die armenische Hauptstadt Jerewan. Sie will die ungewöhnliche Buchbindetechnik Armeniens erlernen und am Zentralarchiv für armenische Handschriften ein »Heilevangeliar« restaurieren, das dort schon seit Jahren im Magazin aufbewahrt wird. Woher die Familienbibel stammt und wer sie gebracht hat, weiß niemand mehr, doch bald schon ist durch Notizen am Rand der Bibel Helens Neugier geweckt. »Hrant will nicht aufwachen, mach, dass er aufwacht«, steht da, ein Gebet, und zudem ein Mädchenname: »Anahid«. Helene beginnt die Geheimnisse des alten Buches zu erforschen. Das Alter der Randnotizen ermittelt sie bald durch die Tinte, sie sind etwa 100 Jahre alt und stammen folglich aus der Zeit des Völkermordes an den Armeniern im Osmanischen Reich. Was damals passierte, wird als eigener Erzählstrang immer wieder aufgegriffen, er berichtet von der Flucht von Hrant und Anahid im Jahr 1915 aus dem türkischen Ordu. Gleichzeitig wird immer deutlicher, dass Hellen nicht nur ihre Arbeit nach Armenien geführt hat, sondern auch die Suche nach ihren eigenen familiären Wurzeln. Mit ihrem Nachnamen Mazavian, den sie bisher eher unpassend fand, ist sie dort »plötzlich in phonetischer Gesellschaft«. Zunächst unwillig, dann mehr und mehr angezogen vom Land ihrer Vorfahren, findet sie durch ein altes Foto ihrer Mutter tatsächlich einen familiären Anknüpfungspunkt und erfährt, dass ihre Großmutter aus dem türkischen Kars stammte.

Helen reist in die Türkei, nach Ordu und Kars, doch erst als sie zurück in Jerewan ist, finden die Bruchstücke ihrer Familienerzählungen in einer gemeinsamen Geschichte vom Exil, vom Verlorengehen und vom Schmerz zusammen, der noch Generationen später nachhallt. Zusammengehalten wird diese Geschichte in einem stabilen Buchblock von der armenischen Bindung: »Fu¨nf Nadeln, fu¨nf Seidenfa¨den, zwei schwarze, zwei rote, ein weißer. Den roten Faden rechts in die Öse, den weißen gleich hinterher, fest ziehen (…), weiter, mit System, nächste Reihe, rot, neuer Faden, gut, es wird, es ist.«

Katerina Poladjan »Hier sind Löwen«, S. Fischer, € 22,–.


04.06.2020 | Jürgen Abel