Katharina Hagenas Roman »Flusslinien«
Die Wolken immer im Blick

Katharina Hagena, Foto: Heike Steinweg
Den Auftakt von Katharina Hagenas »Flusslinien« bildet an »Tag 1« eine Impression über die Elbe als Natur- und Lebensraum, die dem Roman als poetisches Rezitativ über 12 Tage Struktur, Stimme und Takt einimpft. Wer sich da als quasi heimliche Beobachterin und Erzählstimme aus dem Off meldet, und dass es die tragende Säule des Romankonstrukts ist, wird erst am Ende deutlich. Und es zeigt dann umso eindringlicher, mit welcher Raffinesse dieser Roman arrangiert ist.
Erzählt wird von Tag zu Tag jeweils aus der Perspektive von drei Hauptfiguren: Da ist Margrit, eine 102 Jahre alte Dame, die in einer eigenen Wohnung in einer Seniorenresidenz an der Elbe lebt. Jeden Tag lässt sich die ehemalige Stimmbildnerin in den Römischen Garten bringen, wo sie die Wolken und den Fluss im Blick hat, während sie sich an ihre Kindheit, den Krieg, ihre Liebhaber und vor allem auch an Else Hoffa erinnert. Die Obergärtnerin der Familie Warburg hat den Römischen Garten einst angelegt, bevor sie 1938 nach England emigrierte. Aber war sie auch tatsächlich die Geliebte ihrer Mutter?
Nach und nach recherchiert Margrit alles, was sich noch über Else in Erfahrung bringen lässt, und sie erzählt auch ihrer zornigen Enkeltochter Luzie davon, die sich kurz vor dem Abitur – tief verletzt und enttäuscht – von der Schule abgemeldet hat. Sie ist bei ihrer Mutter ausgezogen, einer Dichterin, die gerade einen alten Wasserturm renoviert, übernachtet in einem DLRG-Haus direkt an der Elbe und wird für die Alten der Seniorenresidenz als Tätowiererin zu einer heimlichen Institution. Schließlich ist da noch Arthur, der Minibusfahrer, der Margrit und die anderen Alten bei ihren täglichen Wegen begleitet. Er ist nur wenig älter als Luzie und ein »Krötenretter, Vogelzähler, Sondengänger, Orksprachenerfinder«. Mit Luzie und Margrit verbindet ihn, dass er drängende Fragen an das Leben hat, auf die es keine einfachen Antworten gibt.
Das sind die drei zentralen Figuren und Erzählbausteine dieses Romans, um die sich viele kleine Geschichten und Motive ranken. Unbedingt erwähnt sein soll hier noch ein »Heim-Orchester«, das sich »die Stillen Wasser« nennt und in der Seniorenresidenz mit Luftinstrumenten ein weltberühmtes Konzert zur Aufführung bringt, aber auch Gregor, die späte Liebe Margrits, und sein nahezu tragischer Kampf mit einem Maulwurfsweibchen, das nach dem Tod seiner Frau deren Garten erobert. Es ist im besten Sinn ein wundervolles Kunststück, das Katharina Hagena mit »Flusslinien« geglückt ist, weil hier zusammenfindet, was es sonst meist nur häppchenweise gibt: Poesie, Fabulierfreude und Humor.
Katharina Hagena, »Flusslinien«, Kiepenheuer & Witsch, € 24,–
13.03.2025 | Jürgen Abel