Kim de l’Horizons »Blutbuch«

Ein Zuhause in der Sprache finden

Kim De l Horizon
Kim de l´Horizon, Foto: Anne Morgenstern
Es war ein Triumphzug, mit dem Kim de l’Horizon die literarische Welt im vergangenen Jahr aufmischte. Zuerst wurde der Debütroman »Blutbuch« mit dem Literaturpreis der Jürgen-Ponto-Stiftung ausgezeichnet, es folgte der Deutsche Buchpreis und dann auch noch der Schweizer Buchpreis. Als Geburtsjahr steht in de l’Horizons fiktiver Biografie das Jahr 2066 und als Ausbildung das Studium des »Literarischen Weinens und der Hexerei bei Starhawk«. Tatsächlich gehört das ebenso zu den Selbstfindungen einer öffentlichen Kunstfigur wie der Name Kim de l’Horizon. Das »Blutbuch« ist jedoch ein autobiografischer Text, er erzählt formal und stilistisch meisterhaft von der Suche nach Anknüpfungspunkten in der eigenen Familie und einer Sprache für queere Identität.

Zuerst kann hier noch nachgereicht werden, dass der Werdegang von Kim de l’Horizon so ungewöhnlich nicht ist: Nach einem Bachelor in Germanistik, Film- und Theaterwissenschaften in Zürich folgte eine Studium des literarischen Schreibens am Literaturinstitut in Biel. Schon seit 2015 publiziert de l’Horizon Kurzprosa und Theaterstücke und übernahm 2021/2022 die Hausautor:innenschaft im »Stück Labor« an den Bühnen Bern. Literatur hat mit Hexerei, wie es die fiktive Vita andeutet, eben doch eher wenig zu tun und ist bei diesem »Blutbuch« dennoch mit eingepreist, weil es Kim de l’Horizon gelingt, »ein neues Sternbild für alte Muster und erstarrte Positionen« zu finden« (Jurybegründung zum Jürgen Ponto-Preis). 
Wer bin ich? Das ist Ausgangsfrage einer groß angelegten Versuchsanordnung, bei der die Geschichte einer Familie aus der Perspektive einer Erzählfigur aufgerollt wird, die sich weder als Mann noch als Frau versteht und sich im nonbinären Körper und der eigenen Sexualität auch wohlfühlt. Als die Großmutter an Demenz erkrankt, beginnt diese Erzählfigur sich mit den Geschichten einer weit verzweigten Berner Familie auseinanderzusetzen, eingebettet in die Erkundung einer Kindheit. Zum Ereignis wird das weniger durch die Schweigekultur der Mütter, die der Text aufbricht, als durch das Ringen mit der eigenen Identität und Körperlichkeit.
Der Gesamttext wird selbst zu einem Corpus, der den Versuch bewahrt, die Zuschreibungen, das Diktat des Entweder/Oder von Mann oder Frau durch einen fluiden Text zu durchbrechen, der neue Formen des Wissens und der Überlieferung, des Erzählens und der Ichwerdung generiert. Das »funkelnde Icing des urbanen Schwulseins« wird dabei kulturhistorisch ebenso eingenordet wie die Blutbuche im Garten der Großmutter. Klasse sind die wechselnden Tempi und Tonfälle des Romans, Kim de l’Horizon wechselt fließend zwischen erzählerischen, poetischen und wissenschaftlich-essayistischen Passagen, stets auf der Suche nach einer Form, in der sich das bisher Ungesagte bannen lässt. Dieses »Blutbuch« ist eine höchst unterhaltende und manchmal in seiner Atemlosigkeit auch anstrengende Lektüre, der am Ende aber doch gelingt, all die inneren Widersprüche in einer Art Magie und einem Arsenal der Stimmen zu bannen.

Kim de l'Horizon, »Blutbuch«, DuMont, € 24,–


01.05.2023 | Jürgen Abel