Kristine Bilkaus neuer Roman »Halbinsel«

Nimm dich da raus

Kristine Bilkau, Foto: Thorsten Kirves
An der feinen Nahstelle, an der sich unsere Wünsche, Träume und Hoffnungen in der Realität verfangen, entfaltet Kristine Bilkau die Szenarien ihrer vielfach ausgezeichneten Romane. Mit »Nebenan« stand sie zuletzt 2022 auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis. In ihrem neuen Roman »Halbinsel« (Luchterhand), der im März mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet wurde, verhandelt sie in einem wunderbar leichten Stil die gesellschaftlich-politische Großwetterlage unserer Zeit im Binnenraum der Beziehung einer Mutter und einer Tochter.

Es ist ein psychologischer Allgemeinplatz, dass übermäßig fürsorgliche Eltern ihren Sprösslingen eher schaden als nützen. Nur, was ist der richtige Mix zwischen Fürsorge und Freiheit? Und gibt es nicht jenseits der Familie auch noch eine Welt mit all ihren Herausforderungen und Anfechtungen, vor denen man Kinder sowieso nicht schützen kann?

In einem kurzen Absatz wirft Kristine Bilkau diese Fragen gleich zum Auftakt ihres neuen Romans auf. Da erinnert sich die Erzählerin Annett »in grellen Details« an die ständige Sorge um ihre Tochter Linn als Kleinkind, um gleich darauf von dem Anruf einer Ärztin zu erzählen. Ihre erwachsene Tochter ist bei einem Vortrag auf einer Tagung in einem Hotel plötzlich in Ohnmacht gefallen und wurde in eine Klinik eingeliefert. Annett, die ihre Tochter nach dem frühen Tod ihres Mannes allein großgezogen hat, eilt sofort los und holt sie zu sich nach Hause, ans Meer in der Nähe von Husum. Bald zeigt sich, dass Linn an einem Nullpunkt angekommen ist, ausgebrannt und mit Mitte zwanzig schon zerrieben zwischen Leistungsdruck und Sinnsuche. Dabei konnte die engagierte Umweltschützerin gerade ihre erste Stelle nach dem Studium bei einer Umweltberatung antreten.

Was ist nur passiert? Warum ist sie so hoffnungslos und desillusioniert? Für Annett, die mit Ende vierzig selbst an einem Wendepunkt ihres Lebens steht, ist kaum nachzuvollziehen, dass diesem Kind, das einmal voller Tatendrang und Idealismus »förmlich hinausgeprescht ist in die Welt«, plötzlich »einfach alles zu viel« sein soll. Doch dann erfährt sie, was bei der Tagung passiert ist, Linn erklärt ihr, warum sie nicht länger nach Hoffnungsschimmern für die Umwelt und das Klima suchen will, und vor allem auch, dass sie es aufgegeben hat, dem Ehrgeiz ihrer Mutter zu entsprechen.

Erzählt wird all das nicht laut, sondern leise, nicht durch spektakuläre Ereignisse, sondern am Lebensalltag entlang und dennoch in einem spannenden und sehr feinen Stück Literatur, das sich zu einem treffenden Bild unserer Zeit und ihrer Verlorenheit fügt. Den großen Knall hört man in diesem Roman dann zwar auch noch, aber nur aus weiter Ferne. Bei einer Wattwanderung taucht das Relikt einer viele Jahrhunderte zurückliegenden Katastrophe auf und mit der auflaufenden Flut bald auch die Frage, wie man sich am besten in einer ausweglosen Situation verhält: »Nimm dich da raus«, lautet die Empfehlung, »mit allen Ängsten und allem Vergangenen«. Kein schlechtes Rezept, wenn sonst nichts mehr weiterhilft.

Kristine Bilkau, »Halbinsel«, Luchterhand, € 24,–

27.03.2025 | Jürgen Abel