Kristine Bilkaus neuer Roman »Nebenan«

Und still schweigt das alte Haus

Kristine Bilkau
Kristine Bilkau, Foto: Thorsten Kirves
In ihrem neuen Roman zoomt Kristine Bilkau ganz nah heran an die feine Nahtstelle, an der unsere Wünsche, Träume und Hoffnungen sich in der Realität verfangen. Getragen von einem wunderbar leichten Stil, erzählt sie eine Geschichte, die gleich »Nebenan« (Luchterhand) spielt, dort, wo wir so offensichtlich wegsehen, wie sonst nirgends: in der Nachbarschaft. Schon im vergangenen Herbst wurde Kristine Bilkau für den Roman mit einem Hamburger Literaturpreis ausgezeichnet. »Nebenan« ist eines der literarischen Highlights der Saison.

Die Brüchigkeit von Lebenskonzepten hat Kristine Bilkau auch in ihrem hochgelobten und mehrfach ausgezeichneten Debüt »Die Glücklichen« und in dem darauf folgenden Roman »Eine Liebe, in Gedanken« schon thematisiert. Es sind Romane, die in urbanen, vom schnellen Wandel moderner Gesellschaften geprägten Milieus spielen. Der Schauplatz von »Nebenan« ist nun die norddeutsche Provinz. Überalterung, sich auflösende Nachbarschaften, Leerstand, bröckelnde Fassaden, das sind die Erkennungsmarken der Gegend.

Für die Enddreißigerin Julia hat sich hier dennoch ein Lebens-traum erfüllt. In einem kleinen Ort mit knapp siebenhundert Einwohnern, den der Nord-Ostsee-Kanal in eine Nord- und eine Südhälfte trennt, hat sie sich mit ihrem Lebensgefährten, dem Biologen Chris, ein Backsteinhaus gekauft. Nur sieben Häuser stehen in der Nachbarschaft, genau diesen »kleinen Lebensradius« hat sie sich gewünscht. Jetzt fehlt nur noch ein Kind, damit das Glück so perfekt sein kann, wie auf den Bildern der Familien, denen sie in den sozialen Medien folgt.

Doch dann bleibt das Nachbarhaus, ein hässlicher Gelbklinkerbau, nach den Weihnachtsferien plötzlich verwaist. Was ist passiert? Sind Mona und Erik mit ihren drei Kindern völlig unbemerkt umgezogen? Was hat es mit diesem Jungen auf sich, der sich eines Tages lange vor dem Nachbarhaus herumdrückt? Und mit der seltsamen Nachricht, die er hinterlässt: »Bitte meldet euch! Denkt nicht mehr an das Wasser. Ich habe es verschluckt.« Durch einen Zufall wird auch die Ärztin Astrid, deren Tante Elsa direkt gegenüber wohnt, darauf aufmerksam, dass die Familie Winter nicht mehr da ist. Sie findet den Brief eines Inkassounternehmens, der an Mona Winter adressiert ist und steht daraufhin vor dem überquellenden Briefkasten des Hauses. Julia wendet sich schließlich an die Polizei, erfolglos. Nur die achtzigjährige Elsa bleibt bei all dem sehr gelassen und fast seltsam unbeteiligt. Weiß sie mehr über das Verschwinden der Winters, als sie sagt?

Mit fast schon kriminalistischer Raffinesse knüpft Kristine Bilkau in »Nebenan« ein Band zwischen Julia, Astrid, Elsa und all den anderen, die durch das Verschwinden der Familie plötzlich im Bann des still schweigenden Nachbarhauses stehen. Gleichzeitig fügt sich das Figurentableau ganz beiläufig zu einem Gesellschaftsbild der norddeutschen Provinz der Gegenwart. Es ist eine Momentaufnahme aus Ängsten, Sorgen, Geheimnissen – und der Sehnsucht nach einer Welt, in der wir uns finden.
 

Kristine Bilkau, »Nebenan«, Luchterhand, € 22,–


28.02.2022 | Jürgen Abel