Lea Draegers Roman »Wenn ich euch verraten könnte«

Das Unfassbare aussprechen

Lea Draeger
Lea Draeger, Foto: Paula Winkler
Es ist alles andere als eine Gute-Laune-Geschichte, die Lea Draeger in ihrem Debütroman erzählt, sondern harter Stoff. Da geht es um patriarchale Gewaltstrukturen und Traumata, die von einem perfiden Glaubenssystem getragen werden und über mehrere Generationen fortwirken. Für die dreizehnjährige Ich-Erzählerin in »Wenn ich euch verraten könnte« (hanserblau) gibt es nur einen Weg, um aus dieser Familiengeschichte herauszukommen – sie muss lernen, das Unfassbare auszusprechen.

Sie hat eine ganze Reihe von »Störungen«, die sie selbst in der Diagnose »funktionsgestört« zusammenführt. Eine Erklärung dafür, warum eine Dreizehnjährige plötzlich nicht mehr spricht und nicht mehr isst, bis sie zum Skelett abgemagert in einer Klinik mit einer Magensonde ernährt werden muss, ist das natürlich nicht. Und Lea Draeger vermeidet es sehr bewusst, ihrer jungen Erzählerin irgendwelche Wahrheiten über ihren Zustand einzuimpfen, die Geschichte, die sie erzählt, ist eher ein Herantasten in mehreren Schichten und Varianten, eine Form der allmählichen Selbstermächtigung, die ein fortwährender Prozess bleibt. In Kapiteln, die jeweils mit einer »0« gekennzeichnet sind, erzählt ein junges Mädchen von seinem Alltag in einer Klinik, von den Verletzungen, die es sich selbst zufügt, von Therapien, von Ärzten, Schwestern, anderen Kindern und Jugendlichen. Besuch bekommt es nie, eine Sporttasche mit frischer Kleidung wird von seiner Mutter abgegeben, ohne dass sie bei ihrer Tochter vorbeischaut.

Auf einer zweiten Ebene des Romans erzählt dieses Mädchen in kurzen Kapitel von vier Generationen ihrer Familie: »Über den strafenden Vater«, »Über das schöne Mädchen«, »Über die Angst«, »Über die heilige Mutter und den liebenden Vater«, »Über den geheimen Bund der Frauen«. Es ist die Geschichte einer streng katholischen Familie, die Ende der 1960er Jahre aus der Tschechoslowakei nach Westdeutschland emigrierte. Nach und nach entsteht ein Kaleidoskop aus Verletzungen, es hat das Leben der Frauen in der Familie geprägt – sie alle sind verzweifelt und grausam, traurig und stark und sprachlos zugleich. Das Schweigen der Frauen nicht nur gegenüber den Männern und ihrer Macht, sondern auch über ihre eigene Geschichte, jetzt wird es endlich durchbrochen.

Die Triggerwarnung am Anfang des Romans über »explizite Schilderungen psychischer und physischer Gewalt« ist zwar höchst angebracht, dennoch ist »Wenn ich euch verraten könnte« ein mutiges und hoffnungsvolles Buch, weil es erzählend einen Weg aus der großen (Familien-)Geschichte hinaus und in die eigene Geschichte hinein zeigt.

Lea Draeger, »Wenn ich euch verraten könnte«, hanserblau, € 23,–


30.04.2022 | Jürgen Abel