Leon Englers Debütroman »Botanik des Wahnsinns«

Was ist schon ein normaler Mensch?

Leon Engler
Leon Engler, Foto: Niklas Berg
Es ist eine Familie, in der alle Erinnerungsstücke verloren gegangen sind. Und gleichzeitig ist es eine Familie, die niemand gern im Lebensgepäck hat, denn sie ist über Generationen hinweg von psychischen Erkrankungen geprägt. Wie lässt sich davon erzählen? Leon Engler ist dieses Kunststück mit seinem Debütroman »Botanik des Wahnsinns« (DuMont) glänzend gelungen. In einem vielschichtigen Mix aus Familienanamnese, Fallgeschichte(n) und Geschichte der Psychiatrie findet er eine Sprache für das, was eine Gemeinschaft jenseits normativer Prägungen zusammenhält.

Es gibt für »so ziemlich jede Plage, die in den Bibeln der Psychiatrie zu finden ist«, einen Fall in seiner Familie: Depression, Schizophrenie, bipolare Störung, alles dabei. Für den Ich-Erzähler, der Leon heißt, so wie der Autor auch, stellt sich deshalb nicht ganz unberechtigt die Frage, wann und mit welcher Diagnose genau er selbst in der Psychiatrie landen wird. Ein Schlüsselsatz des Romans, der ihn von Beginn an umtreibt, ist: »Kann man sein Leben ändern, und wenn nicht, wie?« Aufgelöst wird das Paradox, indem der Erzähler tatsächlich in der Psychiatrie landet, allerdings nicht als Patient, sondern als Psychologe. An seinem ersten Arbeitstag übt er die Einweisungen der Patienten an seiner eigenen Aufnahmeakte, doch als er die Klinik nach einem Jahr wieder verlässt, fehlt darin noch die Familienanamnese, die jetzt mit der »Botanik des Wahnsinns« als Roman vorliegt.

Ergänzt wird die Geschichte des depressiven Vaters und der alkoholabhängigen Mutter, der bipolaren Großmutter und des schizophrenen Großvaters nicht nur um die Erfahrungen des Erzählers in der Familie und als Psychiater im Umgang mit Patienten, sondern auch um essayistische Passagen über die Geschichte der Psychiatrie und den Umgang mit Patienten in der Vergangenheit und heute. Die Frage, wie sehr die Fallgeschichten von gesellschaftlichen Normen geprägt sind, schwingt dabei stets mit – und wird doch nie zum Anlass für Kritik.

Als gleich zum Auftakt des Romans von der Zwangsräumung seiner Mutter erzählt wird, durch die versehentlich alle Erinnerungen der Familie verlorengehen, während der »Müll« in einem Lager landet, könnte es der Ausgangspunkt für Wertungen in alle Richtungen sein. Für den Erzähler geht es jedoch allein um die praktische Frage, wie er damit leben kann – und er schreibt einen ganzen Roman, um zu Verstehen und der Familie ihre Geschichte zurückzugeben.

Leon Engler, »Botanik des Wahnsinns« (DuMont), € 23,–

31.10.2025 | Jürgen Abel