Linn Ullmanns »Mädchen 1983«
Sehen, sich erinnern, verstehen
Das Verschweigen, das Vergessen und die inneren und äußeren Dynamiken, die sie als versteckte oder offene Erinnerungen auslösen, spielen in den Romanen von Linn Ullmann (24.11., 19.30 Uhr) eine zentrale Rolle. In ihrem zuletzt erschienenen Buch »Die Unruhigen« erinnert sie sich an ihre Kindheit und ihre Eltern, die Schauspielerin Liv Ullmann und den berühmten Film- und Theaterregisseur Ingmar Bergman. Das Mädchen, von dem sie in ihrem neuen Roman erzählt, ist mit 16 Jahren alt genug, um zu behaupten, dass es allein von New York nach Paris reisen und dort Fotos von sich machen lassen kann. In einem blauen Mantel und mit einer roten Mütze irrt es dann nachts auf der Suche nach ihrem Hotel in Paris durch die Straßen. Auf einem Zettel hat es die Adresse eines dreißig Jahre älteren, berühmten Fotografen notiert, der es mit dem Versprechen lockte, es für die französische »Vogue« zu fotografieren. Das Mädchen heißt Karin Beate Ullmann, die Linn gerufen wird, und landet in der Wohnung und im Bett des Fotografen.
Fast vierzig Jahre später versucht die Schriftstellerin Linn Ullmann das Mädchen, das sie damals war und die Frau, die sie heute ist, »in einem Körper zu sammeln« und sich daran zu erinnern, was geschehen ist. Es ist eine Ermittlung in einer Lebenskrise und eine Selbstermächtigung in drei Teilen, benannt in den leitmotivischen Farben blau, rot und weiß, bei der in immer neuen Variationen das vordergründig Eindeutige gebrochen und neu zusammengesetzt wird. Der Text changiert dabei zwischen sachlichen und poetischen Passagen, wechselt die Perspektiven und wird immer wieder von der Autorin hinterfragt, bis das scheinbar Eindeutige sich vielfach gebrochen neu zusammensetzen lässt.
Linn Ullmann, »Mädchen 1983« (Luchterhand), € 24,–
31.10.2025 | Jürgen Abel


