Louise Kennedys Roman »Übertretung«

Gegen jede Vernunft

Louise Kennedy, Foto: privat
Seit dem Karfreitagsabkommen 1998 gilt der Nordirlandkonflikt als befriedet und schwelt doch bis heute weiter. Wie fragil die Situation ist, hat der Brexit gezeigt, in dessen Folge zum ersten Mal wieder Brandbomben in dem ehemaligen Bürgerkriegsland flogen. Zwischen 1969 und 1998 forderte der Konflikt weit über 3000 Todesopfer und zahllose Verletzte. Die Gewalt und die daraus resultierenden Traumata wirken bis heute fort und werden auch in der reichen Literatur Nordirlands immer wieder thematisiert. In ihrem international gefeierten Besteller »Übertretung«, der in diesem Herbst in der Übersetzung von Claudia Glenewinkel und Hans-Christian Oeser bei Steidl erschienen ist, erzählt die irische Schriftstellerin Louise Kennedy von den »Troubles« – und von einer Liebe gegen jede Vernunft.

Zwei kurze Kapitel, die im Jahr 2015 spielen, bilden den Rahmen, in den Louise Kennedy die Ereignisse von »Übertretung« einfasst, sie erzählen von einer versöhnlichen Wiederbegegnung dreißig Jahre nach einem bitteren Frühjahr und Sommer 1975 in Belfast, in dem sich die katholischen Republikaner und die protestantischen Briten, die Unionisten Nordirlands, unversöhnlich gegenüberstehen: Bombenanschläge, willkürliche Verhaftungen und Verurteilungen gehören zum Alltag. Cushla Lavery, eine 24-jährige katholische Lehrerin, lebt in einem Vorort von Belfast, der von britischen Soldaten kontrolliert wird und in dem Katholiken nur eine kleine Minderheit bilden.

Zwei Jahre nach dem Tod ihres Vaters ist ihre Mutter, bei der sie lebt, in den Alkoholismus abgerutscht. Ihr Bruder betreibt die Bar der Familie, in der auch Cushla regelmäßig aushilft. Dass die Stimmung vergiftet und explosiv ist, zeigt sich zunächst nur in Kleinigkeiten wie den Anzüglichkeiten der britischen Soldaten in der Bar oder einer rigiden Straßenkontrolle auf dem Weg zu einer Party. Dann lernt Cushla den Anwalt Michael Agnew kennen, engagiert, kultiviert, verheiratet, Vater eines fast erwachsenen Sohnes – und Protestant. Ihr Name Cushla, so erzählt sie ihm, würde sich aus der Redewendung »a chuisle mo chroí« ableiten: »Puls meines Herzens«. Es ist der Beginn einer unmöglichen Liebe.

Als unverzeihlicher Fehler erweist sich schließlich auch Cushlas soziales Engagement: Nachdem der Vater ihres einzigen katholischen Schülers fast totgeprügelt wurde, mischt sie sich ein und kümmert sich liebevoll um die Familie des kleinen Davy. In der tief gespaltenen Gesellschaft schürt sie den Konflikt damit nur umso mehr, wird selbst zur Zielscheibe von Verdächtigungen und Anfeindungen – und bezahlt am Ende einen hohen Preis.
Was diesen vielfach ausgezeichneten Roman zu einer unvergesslichen und berührenden Lektüre macht, ist, dass Louise Kennedy so schockierend ehrlich und direkt davon erzählt, wie angreifbar auch noch unsere alltäglichsten Wünsche und Hoffnungen sind, wenn eine Gewaltspirale den Alltag und die Regeln einer Gesellschaft bestimmt.
Louise Kennedy, »Übertretunge« (Steidl), € 25,–

29.09.2023 | Jürgen Abel